Soghafte Schönheiten

Aus der Zeit, als neue Opern noch riesige Publikumserfolge werden konnten: Korngolds „Tote Stadt“

Klangpracht zwischen Dämonisch-Erregtemund Hymnisch-Feierlichem

Als neue Opern noch riesige Publikumserfolge werden konnten, gab es Erich Wolfgang Korngold. Seine 1920 uraufgeführte Oper „Die tote Stadt“ wurde einer der größten Publikumserfolge, zumindest in der Geschichte der Oper des frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Gehalten aber haben sich andere Opern: Bergs „Wozzeck“, Schönbergs „Moses und Aaron“, Zimmermanns „Die Soldaten“.

Nur gelegentlich taucht das damalige Wunderwerk noch auf und offenbart auch heute noch seine soghaften Schönheiten, die im Tonsatz der Spätromantik wurzeln. Die Musik, deren Überdruck man sich schwer entziehen kann, ist voller Einfälle, voller Intensität, schäumt sozusagen permanent mit vernehmlichen Quellen wie Richard Strauss, Claude Debussy, Puccini, Gustav Mahler und vielen anderen. Sie bildet, wie der Regisseur Tilman Knabe es in einem Interview sagte, den „emotionalen Haushalt Pauls“. Das ist das Niveau von Filmmusik und als solche hat sie ihre mitreißenden Meriten und sogar ihre tenoralen Ohrwürmer wie „Glück, das mir verblieb“.

Kein Zweifel: Der junge Regisseur Tilman Knabe hat keinerlei Probleme mit dem Sujet, denn er erkennt im Verhalten Pauls tiefe Übereinstimmungen mit einer grundsätzlichen männlichen Schuldpsyche. Er begibt sich hinein in Pauls pubertäre Befindlichkeit, nimmt dessen Trauma ernst.

Dieser arme Paul hat seiner toten Frau einen Raum gebaut, die er die „Kirche des Gewesenen“ nennt. Da betet er, bis er die Tänzerin Marietta kennenlernt, die der Toten aufs Haar gleicht. Als Marietta sich gegen die Tote durchsetzen will, bringt er sie im Traum um. Die Qualität der Inszenierung ist, dass sie die Wirklichkeits- und Traum-Psychoebenen ständig verwischt. Dabei schaut Knabe sehr genau hin und entwirft eine Menge von szenischen Umsetzungen des Unterbewussten.

Fast wie in einer Putzneurose wienert Paul seinen Altar, am Ende sitzt er da und schaukelt sich selbst, wie vernachlässigte Kinder es tun. In dieser religiös verkorksten Psyche hat eine reale Frau keinen Platz, und auch die Tote war keine solche: Auf den Seitenflügeln des Triptychons mit ihrem Bild kniet Paul und betet sie an, wie er auch den Kasten um das Bild herum als Beichtstuhl benutzt, wenn die tote Marie ihn zur Treue ermahnt. Der religiöse Wahn, in dem Paul sich befindet, wird sehr gut akzentuiert durch den pseudogotischen Raum und das Priesterkostüm Pauls (Bühne von Alfred Peter und Kathi Maurer).

Die Anforderungen an die Hauptrolle sind so überdimensional wie die von Wagners Tristan: Der Gast Klaus Florian Vogt meisterte die Heldenpartie mit einem so reichen lyrischen Schmelz, dass allein seine schauspielerische und musikalische Leistung den Besuch der Aufführung lohnt. Adäquate Partnerin – nach anfänglichen etwas zu fetten Vibrati – Graciela de Gydenfeldt als Marietta, die ihrerseits in vielen Facetten zwischen Wirklichkeit und Unwirklichkeit schillert – die Marietta ist sicher eine der interessantesten Sopranpartien.

Knabe spitzt das Seelendrama zu wie einen Psychothriller, wenn ’zig Mariettas auf Paul zustürzen. Oder wenn die Komödianten aus Mariettas Truppe sich wie in einem surrealistischen Albtraum bewegen – sehr intensiv Sybille Specht, Inga Schlingensiepen, Achim Rikus, Armion Kolarczyck und Ronald Naiditch.

George Stevens als Pauls Freund Frank schafft es am Ende, Paul aus seinem Sumpf herauszuholen. Aber auch das bleibt äußerlich und offen: Knabe inszeniert in der kindlichen Schaukelbewegung Pauls eher das Gegenteil. Die Rolle der Haushälterin Brigitta, die ins Kloster geht und bei ihrer Rückkehr noch einmal ihrerseits kräftig den religiös fundierten Wahn nachzeichnet, spielt Katherine Stone prägnant und präzise.

Graham Jackson musiziert mit dem inspiriert spielenden Philharmonischen Staatsorchester mit überzeugender Klangpracht das Dämonisch-Erregte und das Hymnisch-Feierliche Korngolds, den Gustav Mahler als ein Genie bezeichnete, und verführt uns in der letzten Premiere des Bremer Theaters in dieser Spielzeit zu einem Vollbad des Wohlklangs.

Ute Schalz-Laurenze

Die Korngold-Oper wird nur noch viermal im Theater am Goetheplatz aufgeführt: Am 5., 12., 14. und 21. Juni. Karten können unter Tel. (0421) 36 53 333 bestellt werden