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Plüschbikini versus Sitzkissen

Von wegen, unterkühlte Hanseaten – auch in Bremen regiert der Spaß: Den ganzen Samstag Party pur bei der ersten norddeutschen Vision-Parade. Entlang des Osterdeichs feierten 100.000 Raver, Alternative und Normalos (Zugucker)

Parade-Welten: Glitzercreme-Bauchnabel und Glotzer in Schlabber-T-Shirts

Zürich hat’s, Hamburg hat’s, München hat’s zumindest versucht, sogar Hannover hat’s, und Berlin sowieso. Kein Wunder, dass da der Bremer Lokalpatriotismus trotzig aufkeimte – wir wollen auch eine Techno-Parade. Und bitte eine richtige, ganz echt mit Bierdosen in den Vorgärten, großem Polizeiaufgebot und Rettungssanitätern am Straßenrand. Endlich die Gelegenheit, mit dem Vorurteil des unterkühlten Hanseaten aufzuräumen, endlich die Chance, der Welt zu beweisen: Auch in Bremen regiert der Spaß. Tatsächlich.

Kaum setzten sich am Samstag gegen 16:00 Uhr die 30 Trucks der ersten Bremer „Vision-Parade“ in Bewegung, wurde aus dem friedlichen Osterdeich eine wummernde Partymeile mit stampfenden Beats und Bässen, spärlich bekleideten Teenagern und – tatsächlich – Bierdosen, Polizisten und Sanitätern.

Keine Frage, die Stimmung ist top, der fehlende Sonnenschein schnell weggetanzt. Alles wippt, hüpft und zuckt mehr oder minder im Takt, selbst die Anwohner lehnen wohlwollend am Gartenzaun oder aus dem Fenster, spritzen den Ravern mit Gartenschläuchen den Schweiß vom Körper oder feiern ihre eigenen Partys auf den Dächern. Selbst die Sanitäter können vor ihren Zelten kaum noch still stehen, ein Polizist sitzt auf dem Autodach und schießt geduldig Erinnerungsfotos für die Raver. Und von den Trucks brüllen DJs Anfeuerungskommandos in die Menge („Wollt ihr Party?“). Selbige brüllt entsprechend zurück („Jaa!“), Gogo-Tänzer lassen ihre Hüften kreisen und strecken die Arme gen Himmel – die folgsame Menge streckt zurück.

Womit das größtmögliche Maß an Kommunikation auch schon beinahe erreicht wäre, denn alles andere macht die Lautstärke unmöglich. Bis weit in die Nebenstraßen hinein bleibt die Vorstellung vom entspannten Samstagnachmittag mit Buch eine nette Illusion, und wer sich in unmittelbarer Nähe eines Trucks befindet, wird den restlichen Tag wie in Watte verpackt verbringen.

Party pur. Na gut, Bremen ist vielleicht nicht Berlin. Bremen ist weder cool noch stylish, Bremen ist trotz aller Bemühungen doch in erster Linie nett und beschaulich. Folglich kommt bei der Vision-Parade auf jeden der neonbunten Raver auch ein staunender Schaulustiger im Schlabber-T-Shirt, der ein wenig amüsiert am Straßenrand steht und sich über die sonderbaren Gestalten wundert, die an ihm vorübertanzen.

Streichholzdünne Mädchen im pinken Plüsch-Bikini treffen da auf die neugierige ältere Dame mit Sitzkissen, knackige Pobacken in der Netzhose auf die alternative Viertelfamilie mit Kleinkind, der Obdachlose mit Aldi-Tüte vis-à-vis Glitzercreme um weibliche Bauchnabel.

Oder zum Beispiel auf Alexandra, in deren silbernen Disco-Kugel-Glitzer-Outfit immerhin sieben Stunden Handarbeit stecken. Sie findet die Stimmung „für Bremen ganz okay“, ist allerdings auch Love-Parade-erprobt und fühlt sich jetzt wie der Paradiesvogel vom Dienst: „Die Leute in Berlin sind viel schriller, hier sind viele einfach in ihren Alltagsklamotten gekommen“, beschwert sie sich.

Naja, immerhin: sie sind wenigstens gekommen. Die erste Bremer Vision-Parade als Erfolg zu bezeichnen, wäre glatt untertrieben. Ob Zaungast oder ekstatischer Zappler, die strömenden Menschenmengen haben die im Vorfeld geäußerten Hoffnungen der Organisatoren (die taz berichtete) tatsächlich erfüllt. Mindestens 100.000 Amüsierwillige aus Bremen und umzu, so schätzt die Polizei, haben ihren Weg an die Weser gefunden und bis 23:00 Uhr größtenteils friedlich bewiesen: Bremen hat’s jetzt auch. Bodil Elstner

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