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Riefen die Piloten selbst nach Hilfe?

Das Augenmerk der Ermittler nach dem Flugzeugunglück über dem Bodensee richtet sich auf Fehler der Schweizer Fluglotsen. Russischen Medien zufolge machten erst die Piloten der Tupolew die Flugsicherung auf die drohende Kollision aufmerksam

von ALENA SCHRÖDER

Auch mehrere Tage nach dem Zusammenstoß zweier Flugzeuge über dem Bodensee am Montagabend bleibt die genaue Ursache für die Katastrophe unklar. Die Schweizer Luftsicherungsgesellschaft Skyguide gerät jedoch zunehmend in die Kritik.

Fehlverhalten der beiden Dienst tuenden Lotsen und Mängel am Radarsystem des Kontrollzentrums sollen mit für die Katastrophe verantwortlich sein. Die russische Nachrichtenagentur RIA-Nowosti berichtet nun von Angaben eines russischen Experten der Unfalluntersuchungskommission, nach denen die Tupolew-Crew die Schweizer Flugsicherung selbst über einen drohenden Zusammenstoß informiert habe und dann ganze 40 Sekunden auf eine klare Anweisung des Lotsen habe warten müssen. Eine endgültige Klärung erwartet man sich von der Auswertung des Flugschreibers, mit der am Donnerstag begonnen wurde. Eine Pressekonferenz der Bundesstelle für Flugunfalluntersuchungen, auf der zu den Vorwürfen Stellung genommen werden sollte, stand bei Redaktionsschluss noch aus.

Der Unfall ereignete sich am Montagabend um 23 Uhr 36, als eine Frachtmaschine der DHL vom Typ Boeing 757 mit einer russischen Tupolew 154 in der Luft kollidierte. Bei dem Absturz kamen alle 71 Passagiere ums Leben. Beide Maschinen hatten sich im Sinkflug befunden, um einer Kollision auszuweichen. Warum beide Piloten dasselbe Ausweichmanöver einleiteten und nicht einander entgegengesetzte Befehle erhalten hatten, beschäftigt nun eine Kommission der Bundesstelle für Flugunfalluntersuchung (BFU).

Nach Angaben der BFU habe der zuständige Lotse 50 Sekunden vor dem drohenden Zusammenstoß der russischen Maschine die Anweisung zum Sinkflug erteilt. Der Pilot reagierte erst auf eine zweite Aufforderung und begann nur 25 Sekunden vor der Kollision mit dem entsprechenden Manöver. Zur gleichen Zeit wurde die Frachtboeing der DHL von einem bordeigenen Kollisionswarnsystem (TCAS) zum Sinkflug aufgefordert, der der Pilot den Bestimmungen entsprechend sofort nachkam. Dem Lotsen in Zürich blieb keine Zeit mehr, das Ausweichmanöver mit dem Boeing-Piloten abzustimmen. Sollten sich die Angaben der russiche Nachrichtenagentur RIA-Nowosti bewahrheiten, so hat der Pilot der Tupolew schon 90 Sekunden vor dem Unglück die Schweizer Flugsicherung vor der bevorstehenden Kollision gewarnt, erhielt aber erst 40 Sekunden später die Anweisung des Lotsen zum Sinkflug. Es ist möglich, dass sich zu diesem Zeitpunkt das bordeigene Frühwarnsystem der Tupolew eingeschaltet und in Abstimmung mit dem Frühwarnsystem der DHL-Frachtmaschine den Befehl zum Steigen gegeben hatte. Laut RIA-Nowosti habe der russische Pilot den Lotsen daraufhin gebeten, seine Aufforderung zum Sinkflug zu bestätigen und habe dieser dann Folge geleistet, ohne zu wissen, dass es keine entsprechende Abstimmung mit der Frachtboeing gegeben hatte. Sollten diese Aussagen offiziell bestätigt werden, wäre dies ein klarer Schuldbeweis für die Schweizer Flugsicherung.

Obwohl das Kollisionsfrühwarnsystem im Zürcher Kontrollzentrum wegen Wartungsarbeiten nicht in Betrieb war, war nur ein Fluglotse zum Zeitpunkt des Unfalls im Einsatz. Das Schweizer Büro für Flugunfalluntersuchungen hatte außerdem bereits im Juni festgestellt, dass das Radarsystem der Schweizer Flugsicherung nicht allen europäischen Sicherheitsstandards entspricht und zu Ungenauigkeit neigt. Skyguide schloss jedoch Mängel im Radarsystem als Unfallursache für das Unglück am Montag aus. Die Staatsanwaltschaft in Bülach bei Zürich hat am Donnerstag Ermittlungen gegen Skyguide wegen des Verdachts auf fahrlässige Tötung aufgenommen.

Angesichts der Katastrophe am Bodensee werden nun Forderungen laut, die Flugüberwachung in Europa endlich einheitlich zu regeln. Die EU-Verkehrskommission sieht vor, Kollisionsfrühwarnsysteme europaweit vorzuschreiben und die Abstimmung zwischen den Kontrollzentren zu verbessern. Die Zuständigkeit der Zentren soll vor allem dem Flugaufkommen entsprechen, statt sich nach nationalen Grenzen zu richten.

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