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Abgestempelt

Bitte nicht wegwerfen: Freistempel auf Briefumschlägen können Kunst auf Zeit verschicken. Burkhardt Leitner hat die Nische im Alltag unserer traditionellen Korrespondenz entdeckt. Ausstellung im Museum für Kommunikation Berlin

Burkhardt Leitner hat Mitleid mit Stempeln. Besonders wenn es sich um Freistempel handelt, die Frankiermaschinen automatisiert am Fließband drucken. Weil er nicht sehen konnte, welch trauriges Dasein sie auch in seinem Unternehmen fristen, erteilte er in seiner Rolle als Kunstsammler, Designer befreundeten Künstlern den Auftrag: „Gestaltet mir die freie Fläche auf den Freistempelstreifen für die Firmenpost.“

Das war 1993. Vierteljährlich wechselte das Logo auf dem Portostreifen. 30 Stempelmotive haben sich angesammelt, bis Anfang dieses Jahres die Deutsche Mark auf europäischen Euro umgestellt wurde und die „rote Serie“ endete. Grund genug für Burkhardt Leitner, das Material für eine Ausstellung zurecht zu machen. Nachdem sie zunächst in seiner eigenen „Non-Profit-Galerie“ in Stuttgart gezeigt wurde, wanderte sie jetzt nach Berlin in das „Museum für Kommunikation“. Die Wahl des Ortes dürfte nicht erstaunen, geht es doch um Korrespondenz und Postbetrieb.

In den Raum gestempelt erscheinen dort mobile Stellgerüste. Im Quadrat geordnet rechtwinklige Wandkonstruktionen. Auf Blickhöhe hinter milchigen Plexiglasscheiben die Briefumschläge. Mal grade, schief, dann wieder mittig, nach links oder rechts platziert. Ein schmales Format mit Sichtfenster benutzt die Firma „Burkhardt Leitner constructiv“ für den Briefverkehr. Rechts oben ist sauber der rote Frankieraufdruck gesetzt und gibt Auskunft über Poststelle („Stuttgart 113“) und Stempeldatum. Außerdem natürlich das Kunstwerk: Schlicht und schlank wurde aus dünnen Linien der Stempel entworfen, etwa 2 x 3 Zentimeter messen die kleinen Bildchen. Darüber innerhalb des flächigen Ausstellungsrahmens der Zeitraum, in dem der jeweilige Stempel die ausgehende Post begleitete. Zum Beispiel 01/00 – 03/00 oder 10/97 – 12/97. Ebenfalls zu finden: der Lebenslauf des entsprechenden Künstlers. Oftmals steht da ganz viel geschrieben und manchmal nur eine Zeile. Beweisstückhaft muten die Umschläge an: dass da wirklich der Frankierstreifen gewechselt hat und wirklich das bezeichnete Objekt den Betrieb präsentierte.

Oft ist Zeit das Thema der Arbeiten. Wie bei Daniel Wenk, der Geschwindigkeit als gebeugtes Rechteck erscheinen lässt. Als postalisches Pendant gehört dazu die Postkarte „end construction!“ – ein Augenblick in Chicago am 16. Oktober 1999, in dem ein gelbes Auto über eine Kreuzung rauscht. Thomas Billings zeigt als Einziger Tusche-Entwürfe: ein Herz mit Flügeln, ein dreiäugiges Monster oder ein umgefallener Fernseher mit Totenkopfsignet. Die Flimmerkiste wanderte später auf Leitners Kundenbriefe. Konstruktivistisch als Buchstaben- und Zahlenreihung sind dagegen Stempel und Bilder von Thomas Locher. An Computerzeichnungen erinnert Manfred Mohr. Es gibt sogar konkrete Poesie, die von den Leitner’schen Frankiermaschinen gedruckt wurde. Interessant auch die dazugehörige Biographie von Herman de Vries, der nach seinem Gartenbaustudium in den 50er-Jahren beim Pflanzenschutzdienst beschäftigt war und am Institut für angewandte biologische Forschung in der Natur arbeitete. Heute schreibt er „all/this“ in die Mitte zweier ansonsten leerer Schreibmaschinenseiten und sucht sich als Stempelanregung ein lateinisches Palindrom aus: „sator/arepo/tenet/opera/rotas“ („Der Sämann Areop hält mit Mühe kaum die Räder“) lässt sich von oben nach unten und von unten nach oben lesen. Aber dadada war doch noch was. „Dada – Data“ schreibt Sibylle Schwarz, die ebenso collagiert und ihrem Stempel Wellenlinien verleiht. Andere schließen sich dem Verweis von Freistempelwesen zur Postindustrie an und kritzeln, wie Dinah und Uwe Lohrer, die sprichwörtliche „Schneckenpost“.

Schnell auf- und abgebaut kann das überschaubare Stellwandwäldchen wohl werden und steht damit in seiner Gesamtheit für die Idee des gesamten Projektes. Briefumschläge sollen eben schnellstmöglich durch die Vertriebsmaschinen rattern. Unpersönlich, weil praktisch, ist die Ausgangspost anzuschaun. Deshalb wandern die Umschläge beim Empfänger meistens unkompliziert in den Papierkorb. Wegwerfprodukte. Gespür für das Besondere hat daher Burkhardt Leitner dankenswert bewiesen, die Nische in der Alltäglichkeit entdeckt. (Angewandte) Kunst durfte seiner Firma unverwechselbare Stempel aufdrücken. Hoffentlich haben Leitners Geschäftspartner fleißig Altpapier gesammelt. OLIVER RUF

Bis 28. Juli, Di.–Fr. 9–17 Uhr, Sa., So. 11–19 Uhr, Museum für Kommunikation Berlin

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