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Kontrollierte Defensive

Lance Armstrong lässt Santiago Botero auf der 15. Tour-Etappe ziehen, wohlwissend, dass er ihm keine Gefahr werden wird. Dafür ist nicht nur der Texaner, sondern auch sein Team viel zu stark

aus Les Deux Alpes SEBASTIAN MOLL

Einen kurzen Augenblick wird Lance Armstrong schon überlegt haben: Ob er dem Kolumbianer Santiago Botero doch besser folgen soll – oder ihn ziehen lassen kann. Der Mann im gelben Trikot entschied sich für letztere Variante, schließlich war die gestrige Etappe der Tour de France von Vaison-La-Romaine nach Les Deux Alpes noch jung und erst rund 60 der insgesamt 226,5 Kilometer gefahren. Und außerdem: Was sollte schon passieren, schließlich lag Botero im Gesamtklassement mehr als 18 Minuten hinter Armstrong. Also durfte der Kolumbianer samt weiteren sechs Ausreißern munter davonpedalieren, erst als der Vorsprung die 10-Minuten-Grenze überschritten hatte, wurde es dem Patron und seiner Mannschaft zu bunt und sie verkürzten die Differenz zu den Führenden. Am Ende gewährte Armstrong Botero den Etappensieg mit 6:41 Minuten Vorsprung und begnügte sich selbst mit Rang neun. Das ging durchaus noch in Ordnung, man könnte auch sagen: Es war für Armstrong ein Tag der kontrollierten Defensive; wirklich in Bedrängnis hatte die Konkurrenz den Texaner nämlich auch gestern nicht bringen können. „Das war ein langer, schwerer Tag. Aber mein Team hatte wieder alles im Griff“, merkte Armstrong im Ziel eher beiläufig an. Er hätte auch sagen können: Meine Mannschaft und ich haben unseren gemeinsamen Job einmal mehr mit größter Souveränität zu Ende gebracht, so wie wir das nun schon seit über zwei Wochen tun.

„Das ist die stärkste Mannschaft, die ich jemals hatte“, lobt Armstrong seine Mitstreiter vom US-Postal-Team. Und daran, dass der große Tour-Dominator nicht nur der stärkste Fahrer der Tour ist, sondern auch die stärkste der 20 Mannschaften anführt, hat der Boss persönlich tatkäftig mitgewirkt. Es ist ein offenes Geheimnis, dass Armstrong bei allen Dingen, die das Team betreffen, gemeinsam mit dem sportlichen Leiter Johan Bruyneel entscheidet, und so diskutieren die beiden auch intensiv gemeinsam Personalfragen. Das Postal-Team gab es schon vor Lance Armstrong, doch Fahrer, die damals dabei waren, schildern, dass sich mit Armstrongs Eintritt Ende 1998 so ziemlich alles verändert habe: „Wir waren vorher eine professionelle Mannschaft, aber sehr menschlich. Als Armstrong kam, bekam alles eine andere Dimension. Ich bin gegangen, ich wollte das nicht mehr“, sagt etwa Jean-Cyril Robin, der jetzt der Equipe Françaises des Jeux angehört.

Anfangs scharte Armstrong seine alten Kameraden um sich, mit denen er schon als Jugendlicher in der amerikanischen Nationalmannschaft gefahren war. Doch aus dieser Truppe ist nun keiner mehr übrig, Kevin Livingston und Tyler Hamilton verließen im vegangenen Jahr als Letzte das Postal-Team, um anderswo ihre eigene Chance zu suchen.

Armstrong hat seitdem das ehemals amerikanische Team zu einer multinationalen Elitetruppe umgebaut: Nur drei der neun Tour-Fahrer sind noch US-Amerikaner, nämlich Armstrong, Hincapie und der junge Floyd Landis. Die übrigen sind Südamerikaner, Spanier, Russen, Tschechen, Luxemburger. Diese Mannschaft stand bereits im vergangenen Jahr, lief damals jedoch bei weitem noch nicht so rund. Insbesondere in den Alpen war Armstrong häufig allein, seine Assistenten konnten seinen Takt nicht halten. Heuer jedoch, findet Johan Bruyneel, sei das Team zusammengewachsen und reif: „Sie sind alle besser in Form, sie sind in allen Terrains gleich stark. Und sie haben die nötige Erfahrung: Sie wissen, wie man ein Trikot verteidigt und wie man sich eine dreiwöchige Tour einteilt.“

Daran, dass er nun das beste Team im Profizirkus leitet, freut Bruyneel vor allem, dass er Once überholt hat, die Mannschaft, bei der er selbst bis 1998 Rennen gefahren ist. Manolo Saiz, der Chef von Once, ist der Grandseigneur des spanischen Radsports und verströmt die Aura des Altmeisters. Seit Saiz’ Fahrer Igor González de Galdeano bei der Midi-Libre-Rundfahrt Armstrong besiegt hatte, wurde die Tour in der französischen und spanischen Presse zum großen Duell zwischen dem Lehrer Saiz und seinem Schüler Bruyneel hochgejazzt. „Das hat mich angestachelt“, gibt Bruyneel zu. Zu was das führen kann, sieht man in diesen Tagen.

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