: berliner szenen Milieu und Videothek
Netter Abend
In den Filialen der großen Videotheksketten treffen Bewohner der Großstadt aufeinander, die sonst nur wenig miteinander zu tun haben. Insbesondere der kulturell saturierte Bildungsbürger, der sich mit einem nicht allzu anspruchsvollen Film einen so genannten netten Abend machen möchte, macht dort interessante Milieuerfahrungen.
Hier wird aus der im Feuilleton gepflegten These von der Verrohung der Gesellschaft eine Gruppen von türkischen Teenagern, die beharrlich versucht, eine Kopie der indizierten „Gesichter des Todes“ auszuleihen. Auch die Abteilung mit den Pornofilmen ist nicht länger ungekämmten älteren Herren vorbehalten, sondern wird auch von jugendlichen Paaren in Designer-T-Shirts frequentiert, die ihr Interesse nur notdürftig mit ironischen Kommentaren kaschieren. Und um elf Uhr abends, wenn andere ihre Kassetten zurückbringen, leihen nachlässig gekleidete Jugendliche stapelweise Videos aus, kaufen dazu extralange Blättchen und ein Feuerzeug und richten sich offensichtlich auf einen etwa zehnstündigen Filmabend ein.
Und dann sind da noch die jungen Männer mit ausrasiertem Nacken und festgekettetem Portemonnaie und die jungen Frauen mit Solariumbräune und bauchfreiem Top, die sich vor dem Regal mit den Neuerscheinungen nicht einig werden. Die meisten Filme haben sie ohnehin schon dreimal gesehen. Im Gegensatz zu den Kiffern, den sexuell aufgeschlossenen Paaren und den gewaltorientierten Jugendlichen suchen sie in der Videothek gerade nicht nach dem Exzess, sondern nach einer soliden Basis für einen halbwegs netten Abend – genau wie der kulturell saturierte Bildungsbürger. Auch das ist eine Milieuerfahrung.
KOLJA MENSING
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen