■ Reaktionen zur Özdemir-Berichterstattung
: Ein bissle vom Kurs abgekommen?

betr.: „Ein rückhaltloses Abrakadabra“ taz vom 26. 7. 02, „Özdemir abgeschmiert“, Kommentar u. a., taz vom 27. 2. 02

So, so, Özedemir hat Dreck am Stecken. Welcher andere Hinter- und Vorderbänkler nicht?

Spannender die Frage: Wie viel Atomlobby steckt bei Trittin drin? Wie viel Blut hat Fischer für seine Kriegsbefürwortung an den Fingern? Wie viel Nebel verantwortet die Mainstream-Presse zur Irreführung der so genannten Öffentlichkeit?

GEORG FISCHER, Schefflenz

Sicher war das Verhalten von Cem Özdemir nicht ganz korrekt, und das hat er auch zugegeben. Aber seit wann darf man sich kein Geld leihen von jemandem, der Kontakte zur Rüstungsindustrie hat? Hätte er sich das Geld vielleicht von der Deutschen Bank leihen sollen, die dick und fett im Rüstungsgeschäft tätig ist? Sind denn nicht alle Banken – vielleicht mit Ausnahme der fast pleite gegangenen Ökobank – geschäftlich mit Rüstung treibenden oder anderweitig politisch unkorrekten Firmen verbunden? Und was soll eigentlich diese moralische Verurteilung der Rüstungsindustrie durch Leute, die Auslandseinsätzen der Bundeswehr zustimmen und zu diesem Zweck gigantische 17 Milliarden DM (bzw. das entsprechende Sümmchen in Euro) in die Anschaffung neuer Militärflugzeuge investieren wollen? Und dann die Nutzung von Bonusmeilen dienstlicher Flüge für private Zwecke: wahrscheinlich nicht korrekt, vermutlich durch irgendeine Richtlinie der Bundestagsverwaltung untersagt. Aber was ist das im Vergleich zu den hoch dotierten Beraterverträgen, Aufsichtsratsposten und sonstigen „Nebentätigkeiten“, die viele Abgeordnete von CDU, FDP und SPD gleich dutzendweise ausüben? Und die in nichts anderem bestehen, als dass Abgeordnete ihre politischen Kontakte zum Wohl der ihnen verbundenen Unternehmen einsetzen und dafür bezahlt werden? […] MICHAEL FABRI, Berlin

Wurde nun also auch noch Cem Özdemir zurückgetreten, ist er mit seinen „Flugmeilen“ ein bissle vom Kurs abgekommen – weiter „geflogen“ als gehofft. Bisher der „Schwabe mit Geschmack“, nun also der mit einem „Gschmäckle“. Aber das Verblüffende: Kaum gehässiges Nachtreten von seiten der politischen Konkurrenz, kaum eigentlich wahlkampfkonformes Profitschlagen aus der grünen Affäre seitens CDU, FDP oder SPD. Hat man womöglich selber Dreck am Stecken? […]

Özdemir ist ein Bauernopfer, der nun wieder gefährlich unsichtbar unter der Oberfläche lauert. Besonders betroffen macht mich allerdings diese grüne Selbstdemontage: „Nur wer sich verändert, bleibt sich treu.“ Wer sich aber gleich um 180 Grad verändert, findet sich plötzlich am Platz des politischen Gegners wieder, zu dem man ja eigentlich mal als „grüne Alternative“ angetreten war. […] ANDREA NOLL, Reutlingen

Özdemir sagte, dass er sich durch einen Denkfehler verschuldet hätte, indem er Bruttoeinnahmen für Netto gerechnet hätte! Wenn das ein Abgeordneter sagt, der an Steuergesetzen mitwirkt und darüber entscheidet, ist solch eine Aussage verheerend.

Unsere Steuergesetze werden mit Hilfe von Abgeordneten gemacht, die Bruttoeinnahmen von Nettoeinnahmen nicht genau unterscheiden können. Armer Steuerzahler. Jetzt weißt du endlich, warum sie dir die Taschen links machen!

WERNER BRENIG, Koblenz

Cem Özdemir hat in herausgehobener Funktion Mist gebaut. Er selbst hat sehr schnell eingesehen, dass er dafür büßen muss. Das spricht für ihn. Ihn deshalb mit der zunehmenden Anzahl von Politikern beider Parteien im Rheinland auf eine Stufe zu stellen, die sich von der Müllmafia mit großen Summen haben bestechen lassen, zeigt nur, dass der taz die Maßstäbe verloren gegangen sind.

Cem Özdemir gehört zu den fünf bis sechs grünen PolitikerIn nen, die Säle füllen und Stimmen ziehen. Er hat durch sein persönliches Beispiel und sein Politik mehr für die Integration von Ausländern in Deutschland getan als viele der Salonlinken, die in gut bürgerlichen Wohnvierteln von der multikulturellen Gesellschaft träumen, die Realität in den sozialen Brennpunkten und Hauptschulen dieses Landes aber nicht mal vom Hörensagen kennen. Nicht zuletzt steht Cem Özdemir mit Joschka Fischer für eine Politik, die in bewusster Abgrenzung von der Kohl-Regierung und von manchem PKK-Sympathisanten der Türkei den Weg in die EU im Rahmen einer klaren demokratischen Konditionalität aufzeigt. In welchem Maße diese Politik die gesellschaftliche Basis in der Türkei für mehr Demokratie und Toleranz verbreitet hat, kann man zur Zeit jeden Tag in der Zeitung lesen. […]

Fazit: Die Grünen und die deutsche Politik brauchen Cem Özdemir. Er muss, wie der Radprofi Jan Ullrich, nach einer Zeit der notwendigen Buße eine zweite Chance bekommen.

ROGER PELTZER, Kerpen

In den letzten Wochen bin ich häufig an diesen Werbeplakaten „Grün wirkt“, „präsentiert von Hans-Christian Ströbele“ vorbeigefahren, und jedesmal habe ich dasselbe gedacht: Die Grünen werben mit einem ihrer Abgeordneten, den ich wählen würde, für einen anderen grünen Abgeordneten, den ich wählen würde – und beide haben völlig aussichtslose Listenplätze erhalten, werden folgerichtig höchstwahrscheinlich nicht gewählt.

Es ist absurd, mit welcher Dreistigkeit die Grünen hier WählerInnenbetrug betreiben: Letztes Mal haben sie uns ein Programm verkauft, das sie dann nicht eingehalten haben (ich sag bloß Restitution des Asylrechts, ein tatsächlicher Atomausstieg, Pazifismus und Antimilitarismus), dieses Mal verkaufen sie uns Personen, die wir nachher nicht kriegen! So gerne ich Herrn Ströbele und Herrn Herrmann im Deutschen Bundestag sehen würde, Herrn Özdemir oder Herrn Kuhn werde ich dafür bestimmt nicht wählen! […] GEORG LITTY, Unterjesingen

Die Redaktion behält sich den Abdruck sowie das Kürzen von Briefen vor. Die erscheinenden LeserInnenbriefe geben nicht notwendigerweise die Meinung der taz wieder.