: Der Siegeszug der Currywurst
Die einst opulente Hauptstadtpresse schrumpft auf Nullachtfünfzehnmaß – unter Heulen und Zähneknirschen. Doch die Berlinseiten von „FAZ“, „SZ“ und „FR“ bedauern sich in erster Linie selbst. Die Berliner hingegen scheinen nichts zu vermissen
von ROBIN ALEXANDER
Keine Angst! Dieser Text handelt nicht von arbeitslosen Feuilletonisten und geplatzten Herausgeberträumen. Ausreichend gesungen ist das traurige Lied der Schreiber, denen mit Einstellung der Hauptstadtseiten von FAZ, SZ und FR Spielzeug und Existenzgrundlage gleichzeitig wegbrachen. Was aber geschieht mit einer Öffentlichkeit, in der innerhalb weniger Wochen gleich mehrere Stimmen verstummen? Was bedeutet das Ende des Hauptstadtjournalismus der Überregionalen für Berlin?
„Nichts“, sagt Walter J. Schütz, das große, alte Mittelinitial der deutschen Zeitungswissenschaft: „Dass Zeitungen aus München und Frankfurt für Berlin Seiten reservierten, hat auf die Berliner Öffentlichkeit überhaupt nicht rückgewirkt.“ Selbst die Berliner Seiten (BS) der FAZ, die sich aussschließlich an Berliner richteten, hätten auf dem lokalen Markt „keine signifikante Rolle“ gespielt. Schütz argumentiert mit Zahlen: Eine lohnende Auflagensteigerung hat in Berlin keine Überregionale erreicht.
„Die Auflage lehrt schon Demut“, gesteht Florian Illies (31), Kopf der BS. In der Tat: Keine zwanzigtausend Exemplare verkauft die FAZ in Berlin – mit oder ohne Beilage. Darauf aber besteht Illies: Sein Produkt hätte die Berliner Öffentlichkeit nicht nur geprägt, sondern sogar verändert. Die feuilletonistische Lokalbeilage sei ein neuer Betrachter der Berliner Verhältnisse gewesen. Illies wählt mit der Heisenberg’schen Unschärferelation eine der Physik entlehnte Metapher und meint: „Der neue Betrachter stimuliert, weil die Betrachteten merken: Da ist Wahrnehmung.“ Die BS hätten „bestimmte intellektuelle Milieus in Ost und West doch erst sichtbar gemacht“, beharrt Illies. Der Religionsphilosoph Klaus Heinrich etwa komme in der Berliner Öffentlichkeit nicht vor, den Berliner Seiten habe er hingegen ein Interview gegeben. Illies: „Berlin braucht eine Zeitung, der Altbischof Schönherr genauso wichtig ist wie Shawne Borer-Fielding – zumindest am Aschermittwoch.“ Dies fehle nun. In der Tat: So kann der Religionsphilosoph nicht mehr darauf hinweisen, dass dem evangelischen Altbischof der katholische Aschermittwoch vermutlich so egal ist wie die Hüte der Texanerin.
Die Berliner Seiten werden schwer vermisst. Vor allem von sich selbst: Wochen- und Seitenlang druckte die gekündigte Redaktion vor der endgültigen Einstellung rührselige Abschiedsbriefe von Lesern, die mit der Abbestellung der FAZ oder dem Wegzug aus Berlin drohten.
Kaum Wirkung auf eine breite Öffentlichkeit, aber eine eingeschworene Anhängerschaft, also? Und das genaue Gegenteil: Nicht wenige in Berlin atmeten auf, als FAZ und SZ fluchtartig die Stadt verließen. Den alteingesessenen waren die neuen Kollegen einfach zu jung, zu überheblich, ihre Redaktionen zu gut ausgestattet gewesen. Georg Gafron – als Chefredakeur des Brutalboulevardblattes B.Z. geübt darin, Ressentiments auszudrücken – fluchte den BS hinterher: „Ein guter Tag für Berlin – die taz in der FAZ verschwindet. Die Garde der ‚Rechts leben und links reden‘-Schwätzer tritt ab.“
Die SZ bekam den letzten Tritt vom regierenden Bürgermeister persönlich: „Da wird eine Anti-Berlin-Seite eingestellt.“ Klaus Wowereits Kritik nimmt der ehemalige Chef der Berlinseite als Lob: „Uns ging es eben nicht um Westberlin oder Ostberlin und schon gar nicht um Lichtenrade“, spielt Oliver Gehrs (35) auf den piefigen Heimatkiez von Wowereit an, „sondern um das Neue, das Junge: um die Mitte.“
Berlin Mitte – eher Projektionsfläche als realer Ort – sollte in die Republik vermittelt werden. Was in den anderen Bezirken geschah, war sekundär für Gehrs und Co.: „Ob jemand im Wedding oder in München-Engl-Schalking in den Kopf geschossen wird, ist letztlich egal.“ Aber dafür gibt es ja auch schon Tagesspiegel, Morgenpost und Berliner Zeitung. Für „Hauptstadtjournalismus“ hatte Gehrs’ Mannschaft ein ganz eigenes Rezept: „Bloß keine Pfitzes und ab und an schön sündenbabeln lassen.“ Ein Pfitze, nach dem Volksschauspieler Pfitzmann, war im SZ-Jargon jede alte Westberliner Berühmtheit. Wird jemand in Berlin die SZ vermissen? Die Pfitzes wohl nicht.
Im zeitungssatten Berlin, das sich jetzt in Abwicklung befindet, addierten sich die Ableger der Überregionalen nicht zum normalen Markt, sondern schufen einen Kosmos für sich: Man stritt sich abgehoben, ob Preußen wiederauferstehen soll und wie das Stadtschloss auszusehen habe. Irdische Dinge wie die Aufklärung des Bankenskandals überließ man den Lokalen.
Die haben das Unternehmen Hauptstadtzeitung längst aufgegeben: Die Morgenpost im Westen und die Berliner Zeitung im Osten konzentrieren sich auf ihre lokale Funktion. Allein die Kleinste der Berliner Zeitungen, der Tagesspiegel, strebt vorsichtig nach Höherem. Im Lokalteil gibt man sich solide berlinernd, während die Seite eins und die Kommentare an eine gute Überregionale erinnern. In seiner Sonntagsbeilage lässt der Tagesspiegel gar die Kreativen ran, druckt große Interviews und probiert neue Formate aus. In diesen Zeiten ist so etwas in Berlin bemerkenswert geworden.
An das real existierende Berlin hatte man in den westdeutschen Chefetagen ja auch gar nicht gedacht, als man Mitte der Neunziger die Hauptstadtprojekte aufs Gleis setzte – eher an die 20er-Jahre oder die Metropole von morgen. Aber: „Gerade in Berlin hat Highbrow-Journalismus noch nie funktioniert“, erinnert Walter J. Schütz. Nur zehn von tausend Berlinern lesen eine überregionale Qualitätszeitung, weniger als der deutsche Durchschnitt. Hans-Magnus Enzensberger erfasste diese Erkenntnis, als er zum Abschied der Berliner Seiten wütend formulierte: „Das Prinzip der Currywurst konnte sich so auch auf dem Gebiet der Medien bewähren. […] die Berliner dulden keine Hauptstadtzeitung.“ Enzensberger selbst ließ sich seine BS täglich per Post nach München schicken.
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