: sommerkrimi
Folge 31
„Also, da gibt es zunächst diese Maja Schmiedefeld. Mit ihr habe ich gesprochen. Sie war bis vor etwa zweieinhalb Jahren mit Novitzki befreundet. Sie hat sich von Novitzki nach dessen Asien-Reise getrennt. Nach dieser Reise sei er nicht mehr derselbe Mensch gewesen. Die Briefe, die wir gefunden haben, stammen aus dieser Zeit. Maja Schmiedefeld hat mir freundlicherweise die Briefe ausgehändigt, die Novitzki ihr geschrieben hat. Ich habe den kompletten Briefwechsel inzwischen noch einmal in chronologischer Reihenfolge durchgearbeitet. Es stimmt schon, was sie mir gesagt hat.“
Larissa Lehmann spielte wieder mit zwei Fingern an ihren drei Ohrringen herum.
Schöne Hände, dachte Lund, ausgesprochen schöne Hände hat sie.
„Na was denn, was hat sie dir denn gesagt? Machs nicht so spannend!“
Lund sah ärgerlich zum Fenster. Aber Atze Wendts Affekthaushalt hatte fast wieder Normalpegel, auch wenn seine Worte noch recht säuerlich klangen. Lund kannte ihn lange genug.
„Larissa, kann man die Äußerungen dieser Maja Schmiedefeld in den Briefen nachvollziehen?“
Pieter Lund war neugierig geworden. Vielleicht war hier ein Ansatzpunkt.
„Ja, das kann man, wenn man sie aufmerksam liest. Zuerst war Novitzki regelrecht erschüttert. Er schrieb ihr, er sei zwar in seinem Beruf schon mit einigen Härten konfrontiert worden, aber das Elend in den Slums von Kalkutta, das könne sich niemand vorstellen, der es nicht mit eigenen Augen gesehen hat. Er stand offenbar regelrecht unter Schock. Er schrieb von winzig kleinen Kindern mit Hungerbäuchen. Von Menschen, deren Gliedmaßen durch irgendeinen Grund unfachmännisch vom Rumpf getrennt wurden. Von herausgestochenen Augen. Von eitrigen Wunden, auf denen sich die Fliegen tummelten. Von Kindern, deren Zähne nur noch ein Kranz von schwarzen Stumpen waren. Von unvorstellbarem Dreck. Von Ratten und Menschen, die nebeneinander leben. Später ist er dann in den ländlichen Süden Indiens gefahren. Ich will euch mal aus einem Brief vorlesen:
Ich glaubte immer, gegen die so genannte Globalisierung zu sein, sei das Privileg dieser Typen, die sowieso gegen alles sind. Aber in Indien führte die ungehemmte weltweite Öffnung des Marktes dazu, dass die Bauern im Süden nahezu zwei Drittel ihres Einkommens verloren haben. Ausgerechnet in einer der ärmsten Regionen der Welt. Auch ihre Höfe fielen im Wert um zwei Drittel. Ich sah viele Bauern, die im Überlebenskampf eine ihrer Nieren (!) an Organhändler verkauft hatten. Für umgerechnet 2000 DM. Man versprach ihnen wenigstens das Doppelte, doch selbst beim Veräußern ihres Körpers wurden sie noch betrogen. Vielen gelingt es trotz allem nicht, den Hof zu halten. Aber ihn zu verlieren, das bedeutet in Indien ein Siechtum in den Slums irgendeiner Großstadt. Oft genug sogar den sicheren Hungertod. Diesem Schicksal begegnen die verarmten Bauern massenhaft auf ihre ganz eigene Weise: mit Selbstmord. Die Gesamtzahl der Selbstmorde seit der Marktöffnung geht rapide auf die 20.000 zu! Nicht selten sind komplette Familien darunter. Ich habe in Deutschland zerrüttete Familien gesehen, geschundene Kinder und ständig besoffene Eltern, wirklich die ganze Palette, aber das hier, das ist von einer unvorstellbaren Grausamkeit.
Vorabdruck aus Holger Biedermann, Von Ratten und Menschen, Kriminalroman, erscheint am 28.8. bei Edition Nautilus Hamburg, 192 S., 12,90 Euro, © Edition Nautilus
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen