: Die Unehre des Mitleids
Wie der Wehrmachtssoldat Horst Schluckner zum Deserteur wurde. Und nach dem Krieg auch in der DDR keine Anerkennung fand. Ein Besuch zum morgigen Antikriegstag
von ANDREAS ROTH
„Ach, wissen Se, dass ich vorbestraft sein soll, lässt mich völlig kalt, ich fühl mich nicht als vorbestraft, das klingt ja wie kriminell. Und irgendwie löst sich das ja alles biologisch, wird ja alles vergessen. So ewig Zeit bleibt mir auch nicht mehr, da sollen sie machen, was sie wollen.“ Was wie eine Kapitulation klingt, ist alles andere als das. Horst Schluckner ist desertiert, vor sechzig Jahren, und Desertion ist das Gegenteil von Kapitulation. „Ich bin einer der zwei Letzten, die noch übrig sind von Norwegen, von dem Wehrmachtsstraflager dort.“
Horst Schluckner ist 81 Jahre alt. Einer von vielleicht zweihundert, vielleicht vierhundert noch heute lebenden verurteilten Deserteuren der Wehrmacht. Bei zwei Dritteln der mehr als dreißigtausend Verurteilten wurde die Todesstrafe sofort vollstreckt, viertausend überlebten in Strafbataillonen und KZs. Wie man dem Grausamen keine Ziffern zuweisen kann, so weiß man auch die Zahl der Überlebenden nicht genau, weil viele von ihnen heute noch aus Scham oder Angst vor Schmähbriefen schweigen.
Im Hintergrund in Horst Schluckners Wohnzimmer dudelt das „Schlagerradio“, es ist Vormittag im Leipziger Plattenviertel Grünau. Bevor Horst Schluckner zu erzählen beginnt, holt er noch zwei Sektgläser, trinken wir erst mal ein Schlückchen! Halbtrocken. Ein schwarzweißes Foto liegt auf dem Tisch, ein Jungenkopf mit Wehrmachtsmütze. „So sahen wir damals aus, da waren wir noch stolz, so einen Adler zu tragen. Meine Mutter war nicht politisch eingestellt, die hatte gar keine Zeit dafür, hat Schicht gearbeitet damals in Berlin, bei Elektrolux. Jedenfalls glaubten wir an den gerechten Krieg, daran, dass wir überfallen worden sind. Ich war noch in der Lehre, Maschinenschlosser, da kamen die Freunde schon in Uniform nach Hause, da hab ich mich sogar freiwillig gemeldet. Zur Luftwaffe, weil ich dachte, da kannst du später zur Lufthansa.“ Horst Schluckner wendet das Foto in der Hand und lächelt mild: Lufthansa.
Zur Bordschützenausbildung kam er, nach Ostpreußen. „Man hat ja nie gedacht, dass man fallen muss im Krieg. Sterben wollten wir ja alle nicht. Unsere Einsätze dann, das war schon 42 im Russlandfeldzug, also das lief alles ganz gut. Nur manchmal kamen Sachen, wo man dachte, der Krieg ist nicht so, wie man ihn sich vorgestellt hat. Wir kriegten manchmal Befehle, im Tiefflug auf alles zu schießen, was sich unten bewegt. Da liefen Kinder, Frauen, Zivilisten, ich hab manchmal daneben geschossen, vielleicht war ich zu weich für einen Soldaten.“ Leise fragt sich das Horst Schluckner, ohne rückblickenden Stolz.
So leise erzählt er auch von dem Tag, als er im Fliegerhorst die zweitausend gefangenen russischen Soldaten hungern sah. Die die Baumrinde anknabberten, damit sie was zu kauen hatten. „Die sahen so erbärmlich aus, genauso, wie sie uns immer dargestellt wurden, Untermenschen, dreckig, verlaust. Die taten mir eben Leid. Als wir zurückkamen, da standen die am Zaun und riefen mir zu: Kamerad, Chleb, Chleb! Brot wollten die haben. Wir hatten ja gute Verpflegung, da hab ich mir drei Kommissbrote geschnappt und hab die übern Zaun geschmissen.“ So tat der Gefreite Schluckner das scheinbar Einfachste, und das Zersetzendste fürs System: sich Mitleid bewahren.
Ein Offizier zeigte ihn an. Wenn Sie so gut zu den Untermenschen sind, sagte der, können Sie sich den Zaun auch von der anderen Seite angucken! Da hat der Gefreite Schluckner noch keine Angst bekommen. Als das Flugzeug eines Schulfreundes abstürzte, hat er sich dessen belgische Pistole eingesteckt, als Andenken. Nach seinem Fronturlaub fand sich der Gefreite Schluckner im Arrest wieder, wegen Gefangenenbegünstigung und unerlaubten Waffenbesitzes. „Der Arrestoffizier sagte mir, damit kommen Sie jahrelang nach Torgau. Das war ja das berüchtigtste Wehrmachtsstraflager, der Kommandant war ein Sadist, der ließ jeden Tag einen erschießen, diese Nachrichten schwelten unter uns. Deshalb hab ich mich von einem mitgefangenen Unteroffizier verleiten lassen zur Fahnenflucht, wir wollten in die Schweiz. Wir ahnten ja damals nicht, dass die Schweiz Deserteure wieder auslieferte.“
Eine deutsche Flucht. Mit angezackten Messern die Gitterstäbe durchsägt, mit dem Güterzug nach Berlin, von dort zu Verwandten nach Tetschen. Wie man als Jugendlicher so ist, sagt Horst Schluckner, das war mehr Abenteuer. Wahrscheinlich waren es die eigenen Verwandten, die ihn verrieten. Vor dem Luftwaffenfeldgericht in Königsberg wurde Schluckner zum Tode verurteilt. „Wie taub war ich da, vierzig Tage Todeszelle.
Die Woche zweimal früh wurden welche rausgeholt, um sechs, hinter dem Wehrmachtsgefängnis war der Schießstand, da wurden die dann erschossen, wir hörten die Schüsse; manche schrien beim Rausschleppen, manche waren stumm wie die Fische. Am 41. Tage musste ich wieder zum Feldgericht, da hatte meine Mutter ein Gnadengesuch eingereicht, da wurde ich zu fünfzehn Jahren Zuchthaus begnadigt. Ich wusste ja nicht, dass die Gnade die Hölle war.“
Begnadigt für die „Hölle am Waldesrand“, so nannten die Häftlinge die Moorlager bei Esterwegen im Emsland, dorthin kam Horst Schluckner. Dann nach Nordnorwegen, hinter Hammerfest, in die Tundra. Zweitausend Deserteure, „Selbstverstümmler“, „Wehrkraftzersetzer“, Homosexuelle, Zeugen Jehovas. „Wir waren der Abschaum der Menschheit, so wurden wir auch behandelt. Im Winter hatten wir bis weit über vierzig Grad Kälte da oben. Bunker bauen, Schiffe entladen, Straßen und Schneetunnel bauen, immer unter Schlägen, Hunger. Im Sommer waren dort Mücken, eine Art Malaria, Geschwüre und Läuse, es war fürchterlich. Dort oben gab’s keine Kameradschaft mehr unter den Gefangenen, Wolf unter Wölfen. Helden? Helden gab’s im Lager nicht, Heroisches auch nicht mehr.“ Abgründig das System, das seine Opfer am wirkungsvollsten erniedrigte, indem es sie selbst zu Tätern machte. Horst Schluckner flieht mit einem Kumpel noch einmal, mit letzter Kraft. Die Wachmannschaften hatten Motorschlitten.
„Mein Gesicht sah danach aus wie ein Kupferkessel, die Augen waren zu, stundenlang haben die uns geschlagen, ein paar mal bin ich ohnmächtig geworden, da haben sie mir Wasser übergekippt. Zur Abschreckung wurde ich draußen an einen Pfahl gebunden, da musste ich stundenlang in der Kälte stehen. Meinen Kumpel haben sie erschlagen, der hat das nicht überlebt.“ Zusammengebeugt sitzt Horst Schluckner sechzig Jahre danach auf seinem Sofa, er sucht nach einer Zigarette.
Herr Schluckner, haben Sie manchmal mit sich gehadert, mit ihrer Desertion, ob es das wert war? „Also, wert war’s das auf keinen Fall. Die Brote haben ja nicht das ganze Lager der Russen gerettet, vielleicht zwei oder drei von denen haben was essen können, das war’s nicht wert im Nachhinein. Und das mit der Pistole war doch lächerlich. Wert war’s das nicht, aber ich hab ja nie gedacht, dass solche Sachen solche Konsequenzen haben. Und dass die Fahnenflucht draus geworden ist, allein hätte ich’s vielleicht gar nicht gemacht.“
Dem Gefreiten Schluckner ging es um etwas viel Naheliegenderes, um das Menschliche im Konkreten, um Mitleid und Angst, nicht um Heldenmut oder Ideologie, und das ist das große Missverständnis, auch in der Nachkriegszeit. „Viele Bekannte dachten ja nun, als der Krieg zu Ende war, dass ich groß rauskomme.“ Im Land, wo der Antifaschismus Staatsdoktrin war, in der DDR, hat Horst Schluckner als Schweißer und Kraftfahrer gearbeitet, dreißig Jahre im selben Betrieb. Die Kollegen haben ihn manchmal nach seiner Leidensgeschichte gefragt, interessiert, und Horst Schluckner hat geantwortet. Anders als die Wehrmachtsdeserteure in der BRD kann er sich keiner Beschimpfung als „Verräter“ erinnern; die kam erst 1989 in ein paar Briefen, aus dem Westen und anonym.
1956 durfte er, als wahrscheinlich erster Wehrmachtsdeserteur, in einem schmalen Sammelband die Geschichte seiner Haft veröffentlichen. Doch die Vorgeschichte, die Desertion des Horst Schluckner also, der Skandal einer jeden Armee, den kürzten die DDR-Lektoren weg. Denn mittlerweile rüstete auch der antifaschistische Staat auf, altes Wehrmachtspersonal war wieder willkommen. „Wenn es um KZs und Straflager ging, da haben sie nur von ihren Kommunisten gesprochen. Wir waren nicht politisch, also waren wir uninteressant.“ Der Rat der Stadt Leipzig, Abteilung Gesundheit und Sozialwesen, Betreuungstelle für Kämpfer gegen den Faschismus und Verfolgte des Faschismus, beschied Schluckner am 15. 11. 1967 brieflich: „Wir müssen Ihnen leider mitteilen, dass eine Anerkennung in Ihrem Fall nicht möglich ist.“
Der Grund war Schluckners Angabe, dass er 1942 in die Schweiz desertieren wollte, ins kapitalistische Ausland. Als „VdN“, als staatlich anerkannter Verfolgter des Naziregimes, hätte es eine nicht knappe Zusatzrente gegeben und mancherlei Vergünstigungen. Ach, Horst Schluckner konnte drauf verzichten. Doch einen Wehrmachtsdeserteur hat er mal besucht, der wohnte auch in Leipzig, der war auch kein „VdN“. Der musste als Rentner noch als Heizer arbeiten, während seine Frau krank im Bett lag, in der runtergekommenen Altbauwohnung. „Der tat mir Leid. Da hab ich ihm geholfen, wenigstens Kohlegutscheine zu besorgen. Die Frau hat zehn Jahre auf ihr künstliches Hüftgelenk warten müssen, als anerkannte Verfolgte hätten sie es sofort bekommen.“ Für den Deserteur hatte man hüben wie drüben vor allem Misstrauen übrig. „Wenn ich das alles jetzt hier erzähle“, Horst Schluckner lässt die Hände sinken, „da regt mich heute nichts mehr auf, jetzt kann ich das erzählen, als wenn ich den Bericht eines anderen erzählen würde.“ Nach der Wende bekam er fünftausend Mark vom Staat.
Jetzt hat Horst Schluckner die bunten Postkarten mit den Fjorden hervorgeholt. „Ich würde ja gerne noch mal nach Norwegen fahren, das muss ja interessant sein, es hat sich ja viel verändert.“ Auf einer der freundlichen Ansichten steht: „Der Endpunkt Europas“.
ANDREAS ROTH, 24, lebt als freier Journalist in Dresden
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