berliner szenen 11. 9., 11. 9., 11. 9.?

Erinnerungslücken

Ob ihm ein Arztbesuch weiterhelfen würde? Brinkmann zögerte noch. Schon einige Tage knapste er an dem Problem herum: Er konnte sich partout nicht an diesen einen Tag erinnern, an den 11. 9. des letzten Jahres, vom dem gerade so viel die Rede war. Klar, da hatte es die Terroranschläge in den USA gegeben, die Flugzeuge, die ins World Trade Center gerast waren. Das wusste Brinkmann inzwischen aus dem Fernsehen und diversen Zeitschriften, doch was er nicht wusste: Wo war er an diesem Tag? Was hatte er gemacht und gedacht?

Es hieß, die Welt hätte sich dramatisch verändert, und in jeder Talkshow erklärten schlaue und nicht so schlaue Menschen, wie sehr der 11. 9. ihr Denken und Handeln verändert hätte. Brinkmann aber hatte das Gefühl, der Alte zu sein, der Prä-11.-9.-Brinkmann sozusagen. Und ging es neulich bei Robert und Rollergirl in froher Runde nicht um ganz andere Dinge: um Eltern und ihre Kinder, um die neue Modest Mouse und die alten TVP-Alben? Hatte er an diesem Abend Aussetzer gehabt und die Diskussion um die Folgen des 11. 9. verpasst?

Brinkmanns Freundin Alexandra spekulierte, er wäre halt schwer traumatisiert durch die Ereignisse des 11. 9.; sein Freund Detering jedoch meinte, Brinkmann wehre sich mit aller Macht dagegen, sich die Erinnerungen bestimmen zu lassen. Das hätte er schon an seinem Verhalten an Tagen wie dem 3. 10., 9. 11. oder 15. 12. bemerkt. Detering sprach von Erinnerungsterror, und Brinkmann stimmte ihm zu, denn seit jeher bevorzugte er die unwillkürlichen Erinnerungen. Trotzdem hatte Brinkmann Angst, dass mit ihm nicht alles stimmte angesichts der vielen Menschen um ihn herum, die im vollen Bewusstsein des 11. 9. 2001 lebten. Er ging zum Arzt.

GERRIT BARTELS