: Wiener Couchen
Nikolaus Harnoncourt zitiert Freud und setzt mit den Wiener Philharmonikern den Musikfest-Schlussakkord
„Vergessen Sie den spitzen Stein und tauchen Sie in die slawische Seele ein“, meinte Nikolaus Harnoncourt gut gelaunt in seiner gelungenen Einführung in das Programm mit Werken von Antonín Dvorák und Friedrich Smetana, das er als fulminanten Abschluss des Musikfestes mit den Wiener Philharmonikern interpretierte: die Wiener Philharmoniker, das große Traditionsorchester, noch immer ohne Frauen – nein, zwei an der Harfe und zwei bei den Streichern, „immerhin“ vier Prozent – mit seinem unnachahmlichen Streicherschmelz, seiner Homogenität, seinen brillanten Bläsern.
Erinnerungen kommen auf, wie Harnoncourt vor dreißig Jahren mit seiner Pioniertat, die historische Aufführungspraxis zu entwickeln, von dieser Art Orchester angefeindet wurde. Es ist noch immer ein Phänomen, wie er sich durchgesetzt hat und zu einem der großen Dirigenten des zwanzigsten Jahrhunderts wurde. Und das, obschon der ehemalige Cellist als Dirigent eigentlich Autodidakt ist. Aber er hat kluge, zutiefst musikalische und sehr genaue Vorstellungen von dem, was er transportieren will, und das gestaltet der heute 73-Jährige ungemein überzeugend und mitreißend. Und er hat neben seiner grundsätzlichen Idee, dass man jede Musik am besten von ihren eigenen, also historischen Voraussetzungen her interpretiert, immer erkannt, wie sehr es auf Artikulation, Rhythmik und Dynamik ankommt, was ihm den Weg zu den „modernen“ Orchestern öffnete.
Da waren in der ausverkauften Glocke zunächst einmal die Slawischen Tänze von Dvorák, denen Harnoncourt neben allem Schwung tiefe Trauer und feine Melancholie verlieh: „Sie haben eine Träne und sie sind in ihrer psychologischen Tiefe Freud‘sche Couchen“, sagte er. Das Märchen vom Spinnrad, in dem die aus Neid ermordete Dornicka wieder zum Leben erweckt wird, hat Dvorák 1895 in Musik gesetzt: in schönen, nachvollziehbaren Bildern, aber doch zu additiv und dadurch langatmig. Da war es gut, dass Harnoncourt vorher so richtig Musikbeispiele präsentierte.
Dvoráks Kollege Smetana schneidet für die Gattung „Sinfonische Dichtung“ mit „Vysehrad“ und „Die Moldau“ kompositorisch sehr viel besser ab. Unnachahmlich und begeisternd, wie über Smetanas Klängen unter Harnoncourts Händen der mysthische Felsen zu entstehen scheint, die murmelnde Quelle der Moldau vor uns herläuft, der Nymphenreigen im Mondlicht geradezu als Stillstand zelebriert wird, die Stromschnellen den Glockensaal zu sprengen scheinen und am Ende die Moldau majestätisch auf Prag zufließt. Ovationen für eins der besten Orchester der Welt und den diesjährigen Musikfestpreisträger Nikolaus Harnoncourt.
Ute Schalz-Laurenze
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