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Das Leben diesseits der Tanzfläche

Mit dem Laptop zwischen Schlafzimmer und WG-Küche, Club und Konzert: Der Autoren-House von Turner zeigt die Entwicklung des Trackproduzenten zum sensiblen Songschreiber. Es ist das Bewusstsein, künstlich zu sein, das ihn dabei glaubwürdig macht

Da sitzt ein junger Mann und verarbeitet ehrlich, dass er gerade verlassen wurde

von UH-YOUNG KIM

Der Warm-up-DJ hat seine letzte Platte aufgelegt. Sobald die peitschende Bassdrum verstummt und sich der Trockeneisnebel verflüchtigt, macht sich unter den Tanzwütigen Ungeduld breit. Gespannt richten sich die Augen auf die DJ-Kanzel. Dort steht ein unschuldiger Jüngling und bricht die Sprachlosigkeit der Nacht: „Ja, hallo, ich bin der Turner, und ich werd euch jetzt meine neuen Stücke vorsingen. Von dem ganzen Bumbum wird man ja mit der Zeit blöd.“

Sein Live-Set beginnt mit zarten Gitarrenakkorden aus dem Laptop, die so gar nicht dem Diktat der Tanzfläche entsprechen. Hinter ihm läuft ein Video, auf dem seine geklonten Abbilder an Gitarre, Bass und Schlagzeug synchron zur Musik spielen. Die digitale Simulation „natürlicher“ Instrumente wird visuell verdoppelt und umgekehrt. Auf diesen Meta-Ebenen wird die Illusion selbst zum Gegenstand der Performance. Der über ein Jahrzehnt als soziale Institution kultivierte Raum der Party verwandelt sich in eine Art Konzert, von dessen Fixpunkten und Hierarchien es sich einst abzugrenzen galt. Die stillschweigende Übereinkunft über die Anonymität der Clubnacht, wie sie besonders von der Detroiter Schule gepredigt wurde, wird heute Nacht durch die personifizierte Feedbackschleife von Turner gleich mehrfach außer Kraft gesetzt.

Dass sich der Raum nicht schlagartig leert, liegt zunächst an der Verwirrung über den Bruch der obersten Club-Gebote: „Du sollst tanzen“ und „Du sollst schweigen“. Fest umklammert die zurückhaltend wirkende Gestalt auf der Bühne das Mikrofon mit beiden Händen. Sie haucht, seufzt und singt, als ginge es um ihr Leben, und erklimmt nach zwei Songs Bühnenteile, als sei es das Wembley-Stadion, in dem sie gerade spielt. Die klassisch arrangierten Songs sind um ein sanft pochendes House-Gerüst gewoben, das die Kinder des Stroboskoplichts nach und nach in Bewegung bringt. Die Situation pendelt zurück zu einer Party, die sich ihrer eigenen Codes entledigt hat.

Genre-Bezeichnungen wie „Datapop“ oder „Indietronics“ wurden bereits bemüht, um das Phänomen zu benennen, das klassisches Songwriting mit den Mitteln elektronischer Musikproduktion verbindet. In den letzten Jahren ist die Kombination der ästhetischen Pole Song und Track zum Prüfstein von avancierter Popmusik aus Deutschland geworden. Die Indierockband The Notwist aus Weilheim/München beispielsweise hat ihren Proberaum um ein paar digitale Instrumente ergänzt, der Einlass in die Welt der Clubs blieb ihnen aber verwehrt. Dagegen hat das ehemalige Kölner Whirlpool-Productions-Mitglied Justus Köhncke auf seinem Album „Was ist Musik“ einen Brückenschlag zwischen Laptop-House und deutschsprachigen Poptexten vollzogen, den er als „Schlagertechno“ bezeichnet. Sein Pop-Entwurf kreist um die Erfahrungen der Disco.

Turner steht für ein Modell, das in beiden Kontexten zu Hause ist. Mit seinem Laptop unterm Arm gleitet er in einer Zwischenwelt aus Schlafzimmer, WG-Küche und Club. Die Technoballaden von Köhncke, die von der Musique concrete und dem Jazz beeinflussten Produktionen der britischen House-Extrawurst Matthew Herbert und der Songwriter-House von Turner ähneln sich in der grenzüberschreitenden Grundkonzeption, sind aber in Gestus und Sound so verschieden, dass ein personalisierter Begriff wie Autoren-House angebracht ist, um ihre Unterschiedlichkeit zu fassen. Der aus dem Film entlehnte Begriff betont mehr noch als die Freiheit und Kontrolle über die Produktionsmittel – die in den Solo-Projekten der meisten elektronischen Musik vorausgesetzt werden darf – die eigene Handschrift, die sich in einer Abwendung von der Funktionalität des Dancefloors hin zu den großen Gefühlen des Songs ausdrückt. Dieser lässt sich nicht mehr über Genre- und Szene-Zugehörigkeiten definieren. Menschen leben schließlich nicht in Schallplattenfächern.

Die Wahlheimat des 24-jährigen, polnischstämmigen Frankfurters Paul Kominek, der als Turner seit 1998 auf dem Label Ladomat Platten veröffentlicht, ist Hamburg. Wie keine andere Stadt steht sie für die Möglichkeit von eigenständiger Popmusik aus Deutschand. Ein Musterort für Turners Zwischenwelt ist der Golden Pudels Club, in dessen Kneipe-Konzert-Club-Ambiente B-Boys, Rocker, Elektronik-Frickler und Clubschwärmer netzwerkhaft Koalitionen gebildet haben, die im Rest der Republik selten anzutreffen sind.

Während die musikalische Struktur von House in den aktuellen Turner-Songs nur noch angedeutet wird, ist sein Umfeld nach wie vor die Hamburger House-Gemeinschaft um Dial Records. Hier veröffentlicht Paul unter dem Pseudonym Pawel konsequent minimalistische House-Stücke. Begreift man Minimalismus als eine Bewegung, die aus weniger mehr macht, und als ästhetische Verweigerungsstrategie gegenüber dem Höher-schneller-weiter-Druck des Musikbetriebs, so ist der Schritt zur Entwicklung des House-Produzenten zum Songschreiber näher, als es scheint. Da die Produktion von elektronischer Musik heutzutage preiswerter und durch neue Software-Produkte einfacher zu bedienen ist – so dass standardisierte Musikgenerierungsprogramme schon in ein paar Jahrzehnten den Beat-Bastler völlig ersetzt haben könnten –, haben sich die Protagonisten des Minimal House der Feinjustierung verschrieben. Es muss nicht immer krachen, und mehr noch wie in Turners Fall: Es muss nicht mal mehr getanzt werden, denn das Leben hat sich nie ausschließlich auf dem Dancefloor abgespielt.

Die elektronischen Instrumente sind inzwischen als Handwerk gemeistert und die Elemente der Funktionalität so weit auf die Essenzen der Dancefloor-Kompatibilität reduziert worden, dass nun neue, alte Wege beschritten werden können. Über Turners Minimal-House-Fundament schwelgen mitunter opulente Streicher-Arrangements und gedubbtes Gitarrenzupfen, wie es in seiner behutsam anfängerhaften und gleichzeitig digital fiberglasklar zusammengesetzten Art keinem Solisten der Welt je entschlüpft sein könnte. Sie bilden den reichen Klangraum für die einfach gehaltenen Texte, die Paul Kominek „meistens in ein paar Minuten“ aufgeschrieben hat.

Während Köhnckes Texte oft von einem kollektiven, weltumarmenden „Wir“ der Nacht handeln, bezieht sich Turner auf ein intimes Selbst, das auch den verschlafenen Tag zum Thema macht. Es wäre zu einfach, sich ganz in die sehnsüchtige Atmosphäre auf Turners drittem Album fallen zu lassen, und sich so dem Authentizitäts-Trugschluss hinzugeben, der das traditionelle Songschreiberfeld des Indierock oft zum Beichtstuhl von selbstverliebt weinerlichen Subjekten und Forum von säuselig verzücktem Fantum macht: Da sitzt ein sensibler, junger Mann und verarbeitet ehrlich, dass ihn gerade seine Freundin verlassen hat.

Es muss nicht immer krachen und es muss auch nicht immer getanzt werden

Turner textet auf Englisch, die Sprache des Pop – dem Fake, der die Wahrheit sagt. Diese konstruiert und bricht Turner wiederum mit Lügen. In klassischer Typographie prangert der Albumtitel „A Pack Of Lies“ auf dem Cover. Hinten ist ein Foto abgebildet, auf dem ein irreal wirkendes, verlassenes Filmset an einer Küstenstraße irgendwo am Meer zu sehen ist. Der Inszenierungscharakter der 13 Songs wird mehr als deutlich. Die Distanz zu dem Gesagten und das Bewusstsein, etwas Künstliches geschaffen zu haben, das die zurückgezogene Position öffentlich macht und somit das Gefängnis der Innerlichkeit überhöht, zeichnen die Glaubwürdigkeit aus, die unter dem mehrfachen Boden der Täuschung liegt. Aus den Texten spricht die Sensibilisierung auf Feinheiten aus dem Minimal-House, hanseatischer Humor und das wandelbare Identitäts-Karussell aus dem Pop.

Wenn das singende Ich im Titelstück pathetisch „Honeeey“ schmachtet, ist das Einladung zur und Warnung vor den Irrtümern der Liebe zugleich. Großartige Zeilen wie „How could you be so honest to me, I’ve never been that honest to you“ sagen mehr über die Missverständnisse der Zweisamkeit aus als jeder Seelenstriptease, der sich der unbedingten Ehrlichkeit verschrieben hat. Mit „My PC (is killing me)“ hat Turner ein großartiges Stück Popmusik geschaffen, dessen Kritik am Fortschrittsversprechen des besten Freunds des Menschen wohl jede/r nachvollziehen kann. In „After Work“ stellt sich ein neoliberaler Heuchler bloß, der die Gerechtigkeit auf seiner Seite wähnt. Reaktionen auf das Stück, die Paul mit seinem Feindbild gleichsetzen, zeigen, wie trügerisch selbstverständlich die Identifikationsmaschine der Rock-Rezeption zuschnappt, sobald die Kritik nicht boshaft platt und die musikalische Untermalung beschwingt nett ist.

Das alles wäre vertane Mühe, wenn die zwischen manipulierender Ironie und einnehmender Intimität oszillierenden Songs nicht von ebenso vielschichtigen Arrangements und einem Gesang getragen werden würden, der verschiedenste Assoziationen an die späten Achtziger wach werden lässt. Dass diese von Chris Issak über Duran Durans Simon Le Bon bis zu Robert Smith von The Cure reichen, bedeutet nicht, dass Paul Kominek Erinnerungen aus der frühen Kindheit neu auflegt – 1985 war er gerade mal sieben Jahre alt. Unbewusst berührt er seine Hörer/innen dort, wo sich Referenzen zu einem musikalischen Grundgefühl summieren.

Wie sich die Rockhörerschaft zum Illusionskünstler Turner verhalten wird, zeigt sich bei der laufenden Tocotronic-Tour, deren Konzerte er eröffnet. Im Club ist er schon jetzt ein Popstar. Gerade in dem Umfeld, das in der Anonymität hinter den Rhythmen der Maschinen als postmoderner Musterfall vom Tod des Autors gilt, ersteht dieser zwischen den Kontexten als Vielheit wieder auf. Und wächst über sich hinaus: Paul Kominek hat Neuland im visuellen Bereich betreten. Beim Dreh zum Video der Single „My Aeroplane Mania“ hat er die Regie übernommen und dem „written & produced“ nun ein „directed by“ hinzugefügt.

Turner: „A Pack Of Lies“ (Ladomat 2000/Zomba)

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