die jazzkolumne: Mark-Anthony Turnage und seine Aufträge
Vergiss Adorno, liebe Miles
Das Soundchaos, das bei ihm vor sechs Jahren hin und wieder mal in den Noten stand, stört ihn. Und Mark-Anthony Turnage mag nichts von dem, was Adorno geschrieben hat. Vor allem seine Haltung gegenüber Strawinsky findet er lächerlich, von den idiosynkratischen Texten gegen Jazz ganz zu schweigen. Der 1960 geborene Turnage hält Strawinsky für den wichtigsten Komponisten des letzten Jahrhunderts, Adornos Favorisierung der Zweiten Wiener Schule ist Turnage verdächtig. Ja, mehr noch. Avantgarde, Fortschritt des Materials, Innovation – für den Briten Turnage sind diese Begriffe in Verbindung mit musikalischen Inhalten und Konzepten bestenfalls noch typisch deutsche Fragen.
Ob Strawinskys Werk im Vergleich mit dem Schönbergs regressiv oder ästhetisch infantil ist, interessiert ihn nicht. Solche Wertigkeiten sind ihm suspekt und zuwider. Aber wichtiger noch: Sie ziehen nicht mehr. „Ich bekomme Aufträge“, sagt Turnage. Provozierender kann die Absage an die Generation der von Innovation Besessenen und nach ästhetischem Fortschritt Gierigen eigentlich kaum klingen. Ein großer Auftrag kam aus Frankfurt und wurde kürzlich beim Auftaktfestival in der Alten Oper uraufgeführt.
„Scorched“ ist eine 17-teilige Komposition für Sinfonieorchester, Big Band und Jazz Trio, die Turnage nach Musik des Jazzgitarristen John Scofield schrieb – „Scorched“ kann „verbrannt“ heißen oder einfach nur als die Zusammenziehung von „Scofield orchestrated“ gelesen werden. Sechs Jahre hat Turnage mit Unterbrechungen daran geschrieben, doch allein der Hessische Rundfunk fand sich bereit, die aufwändige und auch kostenintensive Umsetzung anzugehen.
Turnage studierte bei Oliver Knussen, einem führenden Dirigenten und auch Komponisten für zeitgenössische Musik. Über Knussen kam Turnage auch zu Henze, Simon Rattle und Gunther Schuller, der schon vor dreißig Jahren in den USA mit seinen so genannten „Third Stream“-Kompositionen an einem Zusammenkommen von Klassik und Jazz experimentierte. Das Problem mit dem Third Stream war aber nicht nur der Name, das Ergebnis klang damals bestenfalls additiv, meist aber schrecklich gezwungen und, ja, banal irgendwie. Bei Turnage ist das heute anders, vermutlich tut es einfach gut, sich nicht mit den eigenen Ansprüchen zu quälen, unbedingt etwas Neues erfinden zu wollen. „Ich möchte, dass es neu und frisch klingt“, wäre der passende Turnage-O-Ton zu einem Diskurs, dem die Protagonisten irgendwie abhanden gekommen sind.
Zumindest funktioniert „Scorched“ für ihn, das John Scofield Trio und das RSO unter Leitung von Hugh Wolff sogar als zweistündige Live-Übertragung im Radio. Dabei hat Turnage ausdrücklich nicht die Absicht, Jazz und Straight Music zu fusionieren. Turnage ist auch kein neuer Crossover-Missionar, der von der Integration der Stile und Genres träumt. Turnage arbeitet längst an der Synthese der Leidenschaften und Perspektiven, die Oliver Knussen als neue Chance für den zeitgenössischen Komponisten bezeichnet.
Auch wenn Turnage keine Zweifel daran lässt, dass er ein Komponist aus dem so genannten klassischen Segment ist, also straight, liebt er die Musik von Miles Davis. Mehr noch, er hält sie auf unerwartete Weise für kanonfähig: „Was Miles Davis etwa 1958 gemacht hat, ist von größerer Bedeutung als irgendetwas von den Darmstädtern. Es ist einfach eine Tatsache: Jazz – das ist die Musik, die von dieser Zeit überdauern wird“, so formuliert Turnage seinen konstruktiv gedrehten Fausthieb gegen den Avantgardediskurs für Neue Musik im Nachkriegsdeutschland.
Turnage tut dem Jazz gut, vielleicht weil er sich gerade das nicht zur Aufgabe gemacht hat. „Er nimmt meine Songs und bringt sie auf ein völlig unbekanntes Terrain“, sagt John Scofield über den britischen Komponisten, der dem Gitarristen sehr viel Freiheit zur Improvisation einräumte. Für Turnage eher untypisch. Bei Turnages Komposition „Bass Inventions“, die gestern Abend bei den Festwochen in der Berliner Philharmonie Deutschlandpremiere hatte, hat der Jazzbassist Dave Holland nur sehr wenig Raum zum Improvisieren. Anders als im Kontext einer zeitgenössischen Jazzband, wo sich ein Stück von Konzert zu Konzert entsprechend der von den Improvisatoren gespielten Ideen ständig verändert, bleiben die von Turnage notierten Parts für die Birmingham Contemporary Music Group von Konzert zu Konzert identisch – dass Holland wie im dritten Teil der „Bass Inventions“ auch mal improvisieren darf, ist von Turnage so geschickt gelöst, dass man beim Zuhören kaum sagen kann, wo die Notation aufhört und die Improvisation beginnt.
Wie „Scorched“ für Scofield hat er „Bass Inventions“ für Holland geschrieben und dabei auf der Grundlage einer sehr genauen Kenntnis ihrer jeweils eigenen Musik das einzigartige Level dieser beiden Musiker ziemlich gut fixiert. Dass beide einmal in den Bands von Miles Davis gespielt haben, ist für Turnage mehr als wichtig, es gibt eh nur ganz wenige Jazzmusiker, mit denen er arbeiten möchte. Was Holland an Turnages Komposition so fasziniert, sind die Harmonien, die Basis für den faszinierenden Sound. Und das komme bei Turnage von Miles und Strawinsky.
CHRISTIAN BROECKING
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen