: Kalter Rauch und neue Schuhe
Die Kinder von Punk und Serge Gainsbourg: Sie heißen Dominique A, Benjamin Biolay, Katerine oder Yann Tiersen, und sie verpassen dem französischen Chanson ein neues Outfit – mit Low-Fi-Electronica, Kammerpop und Lounge-Kompositionen
von FRANK WEIGAND
Im Jahre 1992 nahm alles seinen Anfang. Ein 24-jähriger Literaturstudent aus Nantes namens Dominique Ané hatte damals in Heimarbeit mit einem primitiven Vierspurgerät einen Song zusammengefrickelt, der die minimalistische Elektroästhetik des Postpunk mit dem poetischen Pathos der Chansonklassiker verband. „Le courage des oiseaux“ gelangte durch das Netz der Privatradios bis nach Paris, avancierte dort zur heimlichen Hymne einer ganzen Generation und setzte, nebenbei, die Provinzstadt Nantes auf die musikalische Landkarte Frankreichs.
Heute gilt Ané, der sich fortan „Dominique A“ nannte, als einer der einflussreichsten Komponisten der Nation. Seine sentimentale Kopfstimme und sein Gespür für sparsame Arrangements haben hunderte von Nachahmern gefunden, im ganzen Land. Gemeinsam ist den jungen Chanson-Eleven, bei allen sonstigen Differenzen, ihre Abgrenzung von den Großen des Genres wie Jacques Brel und George Brassens, die sie an „kalten Rauch und alte Schuhe“ erinnern, wie es der neue Shooting-Star Benjamin Biolay formuliert. Einzig der 1991 verstorbene Serge Gainsbourg, das ewige Enfant terrible, wird von den Nachfolgern als vollwertige Inspirationsquelle anerkannt, da er als Erster die Grenzen zwischen textlastigem Chanson und Popexperimenten durchbrach.
In der Tat hat sich in Frankreich seit dem Tod von Serge Gainsbourg so einiges getan. Unterstützt von der staatlichen Auflage, im Radio mindestens 40 Prozent Musik made in France zu spielen, um der angloamerikanischen Mainstream-Dominanz Einhalt zu gebieten, hatte sich Anfang der Neunzigerjahre besonders in der Provinz eine Schar junger Soundtüftler daran gemacht, dem französischen Chanson ein zeitgemäßes Gewand zu schneidern. Zwar kamen ihre Texte ebenso melancholisch-französisch daher wie die von Brel oder Brassens, doch wurden sie meist von einem Heimorgel-Elektronik-Geblubber begleitet, das an die Frühzeit der Neuen Deutschen Welle erinnerte.
Neben Dominique A dominieren heute vor allem drei Namen die „Nouvelle Scène Française“, wie die Medien (und allen voran das Intellektuellen-Pop-Magazin Les Inrockuptibles) das Phänomen tauften: Philippe Katerine, Bertrand Burgalat – und der Bretone Yann Tiersen, der durch seine Soundtrack-Komposition für „Die wunderbare Welt der Amélie“ bislang als Einziger auch im Ausland bekannt geworden ist.
Philippe Katerine, der wie Dominique A in einem Dorf in der Nähe von Nantes aufwuchs, schlug sich zunächst als Metzgergehilfe, Sportlehrer und Radiomoderator durch, bis er sich ganz der Musik verschrieb. Als großer Fan der Werke von Godard und Truffaut kreierte er einen unverwechselbaren Sechzigerjahre-Sound, der mit seinen Hammondorgeln und Bläsersätzen irgendwo zwischen Nouvelle-Vague-Hommage und Easy Listening liegt. Katerines Texte und Kompositionen, die hinter ihrer federleichten Oberfläche oft bitterböse Ironie verbergen, sind in Frankreich inzwischen so populär, dass der Autor sogar dem Godard-Star Anna Karina eigene Chansons schreiben durfte.
Während Katerine und Dominique A in ihrem Wirken nach wie vor auf Frankreich beschränkt geblieben sind, ist Betrand Burgalat zumindest in der internationalen Lounge- und Low-Fi-Szene längst kein Unbekannter mehr. Bereits mit 25 Jahren produzierte der bullige Korse die Alben von Laibach und den Einstürzenden Neubauten, remixte Jamiroquai und schrieb nebenbei die ein oder andere Filmmusik. Seit 1995 besitzt er auch noch ein eigenes Plattenlabel, Tricatel, auf dem sich Musiker mit unterschiedlichem Hintergrund tummeln. Wie sein Freund Philippe Katerine, hat sich auch Burgalat inzwischen der leicht versnobten Welt des Easy Listening verschrieben und verhalf mit leichtfüßigen Rhythmen dem Skandalpoeten Michel Houellebecq zu einem erfolgreichen Debüt als Sänger.
Doch erst mit Yann Tiersen hat das „Nouvelle Chanson“ erstmals weithin erkennbar die Landesgrenzen überschritten. Die minimalistischen Melodien aus dem „Amélie“-Soundtrack laufen inzwischen in fast jedem deutschen Café als Hintergrundmusik und finden sich in jedem besseren Haushalt. Dabei kam der Erfolg des bretonischen Multiinstrumentalisten keineswegs über Nacht: Seit über acht Jahren zieht Tiersen mit seiner Mischung aus klassisch angehauchten Instrumentalstücken und meditativen Songminiaturen durch die französischen Konzerthallen und veredelt als Gastmusiker oder Komponist die Alben seiner Kollegen.
Die enge Zusammenarbeit der Musiker untereinander ist eines der Kennzeichen der „Nouvelle Scène Française“. Kaum eine Produktion kommt in Frankreich auf den Markt, ohne dass Dominique A, Tiersen, Burgalat und Katerine dabei ihre Finger im Spiel hätten. Bestes Beispiel für diesen Synergieeffekt ist die Solokarriere von Monsieur Anés Exfreundin Françoiz Breut, deren bittersüße Chansons fast ausschließlich von den vier Männern im Hintergrund komponiert wurden.
Ein Neuankömmling ist in diesem Kreis noch der 1968 geborene Benjamin Biolay. Wie Yann Tiersen genoss der Jungstar aus Villefranche-sur-Sâone zunächst eine klassische Ausbildung und begann dann, durch den Einfluss von Punk und Gainsbourg, seinen eigenen Stil zu entwickeln. Biolay war zunächst als Komponist und Arrangeur für andere tätig, bis ihm der überragende Erfolg des Comeback-Albums „Chambre avec vue“, das Biolay für den Altchansonier Henri Salvador komplett komponiert und getextet hatte, ins Rampenlicht verhalf. Spätestens seit seiner Hochzeit mit Chiara Mastroianni – immerhin die Tochter des großen Marcello und Catherine Deneuves – muss er sich um mangelnde Medienpräsenz keine Gedanken mehr machen. Sein Debütalbum „Rose Kennedy“, das im vergangenen Jahr erschienen ist, gilt vielen nun heute schon als neuer Meilenstein des französischen Pop: Vor dem Hintergrund psychedelischer Orchesterparts, die an die späten Beatles erinnern, raunt Benjamin Biolay ganz wie einst Gainsbourg von Sehnsucht und der Einsamkeit des Jetset.
So vielfältig wie diese neue Chansonszene ist in Frankreich auch ihr Publikum. Während die oft kryptischen Texte von Dominique A auch so manchem Literaturdozenten Freude machen, tanzen die hippen Clubgänger in Paris und den anderen Metropolen zur Lounge-Musik von Katerine oder Bertrand Burgalat, während sich bei Yann Tiersens Konzerten auch ältere Damen eine sentimentale Träne aus dem Augenwinkel wischen. Doch so schwer die Künstler in ihrer Heimat gefeiert werden: In Deutschland hatte bislang noch kaum jemand von ihnen Notiz genommen. Die Alben von Katerine und Dominique A waren lange Zeit gar nicht oder nur sehr schwierig auf dem Importweg zu bekommen. Doch nach den astronomischen Verkaufsziffern von Yann Tiersens Filmmusik für „Amélie“ zeigt die deutsche Plattenindustrie nun ein verspätetes Interesse an den neuen Chansons aus dem Nachbarland. Auch der Kölner DJ Oliver Froeschke (alias Djorka F.) hatte über diese Ignoranz oft den Kopf geschüttelt. Seit knapp einem Jahrzehnt zieht er unermüdlich durch die französischen Plattenläden und hat dabei eine umfassende Sammlung angehäuft. Nun sieht er seine Stunde gekommen: Mit Hilfe seines Kollegen Rolf Witteler hat er in seinem Archiv gewühlt und einen Sampler zusammengestellt, der der „Nouvelle Scène Française“ nun zu ihrem Recht verhilft: „LE POP – die Chansons der nouvelle scène française“, versammelt 16 Stücke aus den vergangenen 10 Jahren, von denen 90 Prozent noch nie in Deutschland erhältlich waren, und zeichnet damit die Entwicklungsgeschichte des neuen französischen Chansons nach. Beeindruckend ist die stilistische Bandbreite der Kompilation: Von spartanischer Elektroästhetik, Easy-Listening-Experimenten und romantischem Folk schlägt „LE POP“ den Bogen bis hin zu skurrilen Minihörspielen und Fernweh-Epen mit opulentem Orchester.
Selbstverständlich wurde die Hälfte der Lieder von Biolay, Ané, Katerine, Burgalat und Tiersen geschrieben, doch lassen sich, mit dem liebenswert trotteligen Matthieu Boogaerts oder dem Funkchansonier „M“, auch noch andere Entdeckungen machen. Den Höhepunkt des Albums bildet jedoch ohne jeden Zweifel Dominique A’s „Le courage des oiseaux“, mit dem vor zehn Jahren alles begann. Wenn sich über einem Low-Fi-Techno-Hintergrund die elegische Stimme des Nantaisers erhebt und den „Mut der Vögel“ beschwört, die „singen / im eisigen Wind“, dann wird klar, dass das „Nouvelle Chanson“ seine Hymne längst gefunden hat.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen