Der Vater aller Schlachten

In Frankreich grassiert das Napoléon-Fieber – schon jetzt, lange vor dem 200. Jahrestag der Kaiserkrönung des kleinen Korsen. In Film, Theater und Fernsehen wird jener Epoche gedacht, in der Europa unter französischem Vorzeichen vereinigt wurde

Wenn es um den „empereur“ geht, wird es in Frankreich schnell irrational

von DOROTHEA HAHN

Der Mann war klein (1,68 Meter hoch) und hatte lebenslang eine gelbliche Hautfarbe. Er war ein Putschist und Diktator. Er stürzte ganz Europa in den Krieg. Und er ging auch privat über Leichen. Aber viele Franzosen liegen ihm zu Füßen.

Für sie ist Napoléon Bonaparte (1769–1821) ein Held – ganz so wie vor ihm Jeanne d’Arc und nach ihm General de Gaulle. Gegenwärtig feiern sie Napoléon wieder: In einer vierteiligen Serie im staatlichen Fernsehen, die im Oktober Rekord-Einschaltquoten hatte („Napoléon“). In einem Theaterstück im Pariser Sportpalast, das bereits 100.000 Zuschauer anlockte („C’était Bonaparte“). In einem Film von Antoine de Caunes („Monsieur N.“), der Anfang 2003 in die Kinos kommt. In mehreren Biografien, die zu den 80.000 (sic!) Büchern hinzukommen, die bereits über Napoléon erschienen sind. Und in Titelstorys in Magazinen und auf Webforen, wo allen Ernstes erörtert wird, ob Napoléon eher ein Aufklärer oder ein Schlächter war.

Als Begleitmusik gibt es einen Streit über das Ende Napoléons als Verbannter auf dem britischen Inselchen Sankt Helena. Biologen und Mediziner haben anhand einzelner Haare aus Napoléon-Reliquien wissenschaftlich nachgewiesen, dass er nicht an einer Arsenvergiftung, sondern an einem banalen Magenleiden gestorben ist (vermutlich an Krebs, wie schon sein Vater). Doch kaum war das bekannt, kam Ende Oktober bereits der nächste Mythos in Umlauf. Seither heißt es: In dem geschwungenen Sarkophag aus rötlichem Porphyrstein, der im Pariser Invalidendom steht, befänden sich gar keine imperialen Reste. An Napoléons Stelle hätten die Briten 19 Jahre nach seinem Tod eine andere Leiche nach Frankreich geschickt.

Die Symptome sind eindeutig: In Frankreich grassiert die Napoleonitis. Wie schon oft. Bloß beginnt sie dieses Mal lange vor dem nächsten runden Jubiläum und ist lediglich ein Vorgeschmack darauf, welch gewaltige Napoléon-Welle in den kommenden Monaten noch rollen wird. Mindestens bis zum Jahr 2004 – wenn der 200. Jahrestag der Kaiserkrönung ist. Jener pompösen Veranstaltung im Beisein von Papst Pius VII. in der Pariser Kirche Notre-Dame, bei der sich der kleine Korse, der seine Karriere als General in den Diensten der republikanischen Revolution begonnen und der am 18. Brumaire 1799 das Direktorium entmachtet hatte, in das von ihm selbst erfundene höchste Amt des empereur beförderte.

Der aktuelle Blick auf Napoléon ist geprägt von Bewunderung und kitschiger Verklärung. Gefeiert wird der General, der auf Schlachtfeldern wie Austerlitz und Jena triumphierte, und der Europa – von Spanien bis Russland – französisch machte. Wenn auch nur für kurze Zeit und zu dem Preis von Millionen Toten und einer Niederlage, die viele Jahrzehnte währen sollte. Gefeiert wird zugleich der Gefühlsmensch im Monstrum Napoléon. Der liebende Ehemann (erst von Joséphine, dann von Marie-Louise), der zärtliche Liebhaber (unter vielen anderen der Polin Marie Walewska), der besorgte Sohn (der korsischen Mamma Letizia) und der aufrichtige Freund (der Sterbenden auf dem Schlachtfeld).

Schauspieler Christian Clavier, der in der sechs Stunden langen Fernsehserie Napoléon ist (und zuletzt Asterix spielte), sagt anerkennend über seine Figur: „Schon vor 200 Jahren hatte er eine Vision von einer gemeinsamen europäischen Währung.“ Der frankokanadische Regisseur der 50 Millionen Euro teuren TV- Produktion, die demnächst in zahlreichen Ländern laufen wird, Yves Simoneau, will zwar nicht ausschließen, dass Napoléon „Fehler gehabt haben mag“, lehnt aber Kritik kategorisch ab: „Wir sind nicht dazu da, ihn zu beurteilen.“

Für die TV-Serie hat Simoneau finanzielle Beteiligungen aus beinahe allen europäischen Ländern sowie den USA und Kanada bekommen. Im Gegenzug nahm er ausländische Stars mit hinein – darunter die Italienerin Isabella Rosselini (Joséphine), den US-Amerikaner John Malcovich (Talleyrand) und den Deutschen Heino Flech, dessen Figur Caulaincourt im Verhältnis zur historischen Realität im Film beträchtlich aufgewertet ist. Als französisches Schwergewicht gibt Gérard Depardieu (der kürzlich Obelix spielte) in „Napoléon“ den strengen Berater Fouché.

Der Serie sind bereits an die 200 Napoléon-Verfilmungen vorausgegangen, womit der kleine Korse gleich nach Jesus die am meisten verfilmte Figur der Geschichte ist. Und zwar in allen Genres – vom Liebesfilm bis hin zur reinen Propagada. Allein im Zweiten Weltkrieg drehten Briten, Sowjets und Nazis (Veit Harlan: „Kolberg“) je eine Version über Napoléon. Später arbeiteten unter anderem Woody Allen mit Diane Keaton und der Ägypter Youssef Chahine an dem Thema. Doch nie zuvor ist eine Napoléon-Film-Produktion so international finanziert gewesen und gedreht worden wie diese. Bei der Rekonstruktion von Schlachtszenen, unter anderem in Ungarn, haben bis zu 20.000 Statisten mitgewirkt. Auf Kommando mussten sie genauso umfallen, wie es auf den zeitgenössischen Darstellungen von Napoléons Hofmalern zu sehen ist.

Demnächst wird die Serie weltweit laufen: ab Januar in Deutschland. 14 weitere Länder haben bereits Verträge unterzeichnet. Der Held in ihrem Zentrum, der zwischen jedem neuen Krieg eine Liebesgeschichte hat und über dessen Motive, Ziele und Hintermänner der Zuschauer fast nichts erfährt, wird das Napoléon-Bild einer Generation prägen.

Ein ungetrübtes Verhältnis zu Napoléon hat auch Robert Hossein, der 100 Schauspieler in 500 Rollen auf die Bühne des Sportpalastes brachte: „Ich erzähle die Geschichte von einem Typen, der Frankreich und die Republik gerettet hat.“ Der 75-jährige Hossein ist auf große Figuren und große Spektakel spezialisiert. Nachdem er seine Kassen unter anderen mit Jesus und General de Gaulle gefüllt hat, sagt er jetzt: „Ich liebe Napoléon.“ Sein Stück endet mit der Kaiserkrönung. Napoléons Niederlagen, vor allem die endgültige von 1815 im belgischen Waterloo, interessieren ihn nicht.

Bei so viel Huldigung geht einiges unter. Kaum jemand erinnert heute in Frankreich an die Wiedereinführung der Sklaverei, die Napoléon vor exakt 200 Jahren verfügte. Kaum jemand spricht über das napoleonische Verbot von Arbeitervereinigungen, über die Vertreibung der Intellektuellen ins Exil und über das „livret ouvrier“ mit Bewertungen der Patrons, das der „erste Konsul“ Napoléon im Jahr 1803 zu einem Pflichtausweis für Arbeiter machte. In Vergessenheit geraten ist auch sein „Code civil“ von 1804, der festlegte, dass Männer über „ihre“ Frauen und Töchter bestimmen.

„Wenn es um den empereur geht, wird es in Frankreich irrational“, weiß Jean Tulard, Napoléon-Experte an der Pariser Sorbonne. Dabei ist die nationale Ikone nur durch einen Kalenderzufall des Machtpokers im Mittelmeer Franzose geworden. Wenige Monate vor der Geburt des kleinen Nabuleone Buonaparte gehörte Korsika noch zu Genua. Dann kaufte Paris die Insel auf. Und die Unabhängigkeitskämpfer verloren ihre letzte große Schlacht gegen die Franzosen kurz vor Napoléons Geburt. Dass ausgerechnet einer von ihrer Insel wenig später zum Vorkämpfer für den französischen Zentralismus wurde, nehmen manche Korsen Napoléon bis heute übel. In seiner Geburtsstadt Ajaccio freilich bestimmen sein Name und die Namen seiner von ihm in Königs- und Herzogsposten gehievten Familienmitglieder den Stadtplan.

Anderswo in Frankreich ist Napoléon im Stadtbild weniger präsent. In Paris hat er zwar zwei Statuen, aber keine Straße und keinen Platz, der nach ihm als Kaiser benannt ist. Dafür ist sein Geist bis heute in fast allen französischen Strukturen lebendig: von der Auszeichnung „légion d’honneur“, die der Staatspräsident verleiht, über das Theater „Comédie-Française“ bis hin zu dem Zentralismus der Verwaltung in der Provinz. Auch das erklärt das Anhalten der Napoleonitis.