piwik no script img

Kitschgrenzen

Taschentuchträchtiger teutonischer Tiefsinn: Hector Berlioz’ Oratorium „L’Enfance du Christ“ in der Glocke

An sich ist Hector Berlioz für Fieberträume und Hexensabbatte zuständig, nicht aber für Weihnachtliches. Nichtsdestotrotz schuf er ein szenisches Oratorium über die Kindheit Jesu – immerhin gab diese einem machtgeilen Herrscher Anlass, einen Massenmord zu verüben. „L’Enfance du Christ“ war jetzt, mit der „EuropaChorAkademie“ und dem Südwestdeutschen Kammerorchester Pforzheim unter Leitung von Joshard Daus, in der Glocke zu hören.

Möglicherweise war Berlioz zu diesem Werk durch einen Witz motiviert worden, den er sich mit dem – von seinen Klangorgien genervten – Pariser Publikum erlaubte: Ein schlicht-naives Chorstück präsentierte er als wiederentdecktes Werk eines längst verstorbenen Komponisten. Um dies mit Erfolg präsentierte Genrestück herum schuf er sein „L’Enfance du Christ“. Ein typischer Berlioz zwar, farbenreich, dramatisch, aber von berückender, äußerst kunstvoll gestalteter Naivität, in die sich der Zuhörer seines romantischen Zauber wegen ganz verlieren könnte – hätte der Meister nicht einen Abstand schaffenden Erzähler eingefügt. Das schönste Hosianna der Musikgeschichte ist da ebenso zu hören, wie eine ironisch gebrochene Hirtenidylle. Berlioz hat sein Werk gefallen, auch wenn er später lachend von Zuschauermassen berichtete, die ihr Taschentuch benötigten.

Daus hatte ein prächtiges Solistenquartett aufgeboten, an deren Darbietung allerdings gleichzeitig das Problem seines interpretatorischen Zugriffs deutlich wurde. Der Tenor Reginaldo Pinheiro als Erzähler und Andreas Scheibner (Bariton) als Joseph sangen schön, gepflegt und mit emotionaler Zurückhaltung. Dafür ging die Mezzosopranistin Ruth Sandhof in die Vollen, als wolle sie tatsächlich das Kindlein mit ihrem volltönenden, liebevollen Gesang vor der Kälte schützen. Peter Mikulas (Bass) gab dem Herodes Züge von Tiefe und Größe, die allenfalls Boris Godunow, ebenfalls ein Mörder, zukommen. Distanz und Nähe, romantische Intensität und deren Ironisierung umzusetzen, gelang an diesem Abend nicht.

Daus ging das Werk mit teutonischem Tiefsinn an: Jede Phrase, jeder Akzent wurde intensiv gestaltet. Der einleitende nächtliche Marsch, eine mit melancholischen, neblig schwarzen Schleiern ausgestattete fließende Musik, geriet zum heroischen Trauermarsch. Herodes, von Text und Musik als feiger Heuchler gezeichnet, wurde so zur tragisch umwitterten Gestalt – fast war man geneigt, sich mit dessen Kindermordprojekt zu solidarisieren.

Die Technik des Verweilens im Detail, die behäbigen Tempi und die innige Vertiefung an „schönen Stellen“ zerstörten immer wieder die Balance. Das solide aufspielende Orchester (von leichten Trübungen in den hohen Streichern einmal abgesehen) schien zuweilen Schwierigkeiten zu haben, dem mehr modellierenden als dirigierenden Chorleiter zu folgen.

„L’Enfance du Christ“ als Mittelding zwischen heroischer Oper und religiöser Erbauung präsentiert, streift denn doch die Grenze zum musikalischen Kitsch und so waren auch im Bremer Publikum Taschentücher zu sehen. Entsprechend gab es ergriffenen Beifall, dem sich der Rezensent besonders wegen des prachtvoll und differenziert singenden Chores und des wunderbaren Erzählers anschloss.

Mario Nitsche

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen