Mok de Dör op!

Das alte Jahr hat seine Schuldigkeit getan, das alte Jahr kann geh‘n. Und am besten vertreiben wir es mit einem alten norddeutschen Brauch, dem Rummelpottlaufen. Nur woher nehmen wir das wichtigste Utensil – eine Schweinsblase mit Harnröhrenfortsatz?

von CORNELIA KURTH

31. Oktober

„Laufen wir denn Silvester wieder Rummelpott?“, fragt Linus, mein neunjähriger Sohn. Ja, das werden wir, wie immer, wenn wir bei meinen Eltern in Schleswig-Holstein ins neue Jahr feiern. Wild verkleiden, Krach machen vor den Türen in der Nachbarschaft, Süßigkeiten, auch Geld einheimsen – und das plattdeutsche Geistervertreibungslied singen:

Lieschen, mok de Dör op,

der Rummelpott will rin.

Hau de Kat den Stert af,

hau em nich to lang af.

Lat een lütten Stummel stahn,

wie wüllt ok noch wieder gahn.

Je mehr Kinder mitmachen, desto besser, denn ohne wird man oft angeguckt wie eine echte Räuberbande. Diesmal aber werden wir vor allen konkurrierenden Truppen den Vogel abschießen: mit einem echten Rummelpott! Selbstgemacht nach hergebrachter Art.

Seit Kindheitstagen laufe ich Rummelpott und wusste bis heute nicht, was ein Rummelpott überhaupt ist. Niemand hier weiß das, denn den Brauch gibt’s nur im hohen Norden. Meine neue Heimat Niedersachsen fällt da schon raus. Im Internet aber steht es genau: „Archaisches Lärminstrument zur Vertreibung der bösen Geister des alten Jahres“. Und auf der Website eines alten Schleswig-Holsteiners (www.rummelpott.de) gibt es sogar eine Bauanleitung. „Versprochen!“, sagte ich zum Sohn, noch bevor ich richtig las, was ich da versprach: „Man nehme eine frische Schweinsblase. Mit Harnröhrenfortsatz.“

„Ihh!“, ruft Linus.

„Zu spät!“, sage ich.

Eine Schweinsblase also, frisch, die dehnt man zu einer Art Trommelfell und steckt dann durch den Harnröhrenfortsatz einen Pin (Stab). Das alles zerrt man über eine große Konservendose (das geht nur zu zweit). Danach kann man durch Reiben des Pins ziemlich unheimlichen Krach machen. (Irgendwie unheimlich sehen auch die unscharf fotografierten rosigen Schweinsblasen auf den Bildern der Bauanleitung aus …)

1. November

Habe gerade bei meiner sonst immer so netten Fleischersfrau nach einer „Schweinsblase mit Harnröhrenfortsatz“ gefragt. „Nein!“, sagte sie distanziert und lächelte nicht mal, warf nur einen besorgten Blick auf die anderen Kunden. „Mit so was habe ich nichts zu tun!“

Dann aber raunte sie mir zu, ich solle zu ihrem Mann auf den Hof gehen. Der lachte laut auf, als ich ihm vom Rummelpott erzählte, und meinte, ganz vielleicht könne er eine bekommen. Da, wo er immer seine Naturdärme für die Würstchen besorgt, nicht ganz frisch allerdings, sondern mit Salz konserviert.

„Die müssen Sie natürlich aufblasen!“ sagt er. Damit sie trocknen könne. „Aber das geht ganz prima – einfach durch den Harnröhrenfortsatz pusten …!“ Mein Gott!

2. November

Morgen erfahre ich, ob es meinem Fleischermeister gelungen ist, eine Schweinsblase zu erschmuggeln. Und – Hilfe! – WAS IST, WENN JA?

4. November

Er musste mich vertrösten. Beinahe wäre es mir egal gewesen, doch dann kapierte ich plötzlich, dass man die Schweinsblase gar nicht aufblasen muss, weil sie ja über der Dose trocknen soll. Ob es wohl was ausmacht, dass sie gesalzen ist?

7. November

Endlich winkte mich mein Fleischermeister verschwörerisch an den Ladentresen und sagte, nächsten Dienstag wäre es wohl so weit. „Unter einer Bedingung: Hängen Sie es bloß nicht an die große Glocke!“ Es sei nämlich nicht legal, gewisse Innereien mit der normal kontrollierten Fleischerware zu liefern. Die kämen alle gleich ins Hundefutter. Früher, ja, da habe man alles vom Schwein genutzt, bis zur letzten Borste. Aus der Magennetzwand habe man Bratennetze gemacht, und die Harnblase natürlich mit Sülze gefüllt. „Schreiben Sie so was bloß nicht in der Lokalzeitung! Das geht immer nach hinten los! Die Kunden wollen das nicht wissen, die denken, das Fleisch kommt aus der Fabrik.“

22. November

Vor ein zwei Tagen noch raunte mir die Frau meines Schweinsblasendealers hinter vorgehaltener Hand zu, er habe „die gewisse Sache“ immer noch nicht besorgen können, es sei sehr schwierig, er stehe aber in Verhandlungen mit einem möglichen Zwischenhändler, der ganz frische Ware habe, es sei nicht ausgeschlossen, dass er mich doch bald beliefern könne.

Und heute nun lächelte sie erstmals wieder verschmitzt und teilte mir von sich aus mit, ich könne tatsächlich am nächsten Donnerstag mit „dem Gewünschten“ rechnen. Mutig äußerte ich die Bitte, mir, wenn möglich, gleich zwei oder drei Stück der „besagten Teile“ zu organisieren. Sie versicherte, das würde wohl keine Schwierigkeiten machen. Erstaunlich!

Gutgelaunt erzähle ich Linus von den erreichten Fortschritten, da weicht er zwei Schritte von mir zurück. Nie, niemals würde er die Dinger anfassen. Das wirst du aber müssen, mein Kind! Denn ohne Hilfe, so beschreibt es ja der Fachmann, lässt sich ein Rummelpott nicht fabrizieren. Und ein Zurück, das gibt es jetzt nicht mehr.

27. November

Es ist so weit! Die Schweinsblasen sind da. Mein Fleischermeister rief in der Mittagszeit an und sagte, ich könne sie abholen. Ich nehme Linus mit in den leeren Laden.

„Die sind ganz frisch, extra für Sie, ungesalzen! Fragen Sie aber nicht, woher ich sie habe!“ Ich komme mir vor wie eine Rummelpotthexe, die verbrecherische Zutaten für eine Geisterbeschwörung sucht. Der Fleischer hält uns seine Hand entgegen, darauf liegen zwei kleine rosa Dinger. Sie sehen aus wie zwei Embryos, wegen des Harnröhrenfortsatzes, lang und schlapp wie eine Nabelschnur. Schockiert wankt Linus zurück und stößt an ein Tischchen, das krachend umfällt. „Na, hör mal!“, sagt der Fleischer und geht mit den Schweinsblasen auf das blasse Kind zu. „Du hast so was auch in deinem Bauch! Ganz sauber alles. Höchstens innen drin noch ein paar Tropfen Urin, aber die kann man ja abwaschen.“ Linus unterdrückt beschämt seine Tränen.

„Tja, nun müssen Sie ran, Frau Kurth. Heute noch!“ sagt der Fleischer und grinst breit. „Ungesalzen halten sich die Dinger nämlich nicht.“

28. November

Hab mir eine Konservendose mit den geforderten zwanzig Zentimetern Durchmesser beim Italiener besorgt. Und einen Laternenstab, als Pin. Vor mir liegt eine der beiden Schweinsblasen auf dem Küchentisch, so klein und kompakt, rosa, höchstens so groß wie ein Hähnchenbrustfilet, wenn man die lange Nabelschnur, äh, den Harnröhrenfortsatz nicht mitzählt. „Weiten Sie mit Gefühl die Blase so, dass sie über die Dose passt“ – so steht es in der Bauanleitung. Das Löchlein, das entsteht, als ich unten ein Stück abschneide, ist wirklich nur ein Löchlein, kleiner als die Löcher in den Gummihandschuhen, die ich im Küchenschrank finde. Also: Rein mit dem bloßen Finger in die enge weiche Öffnung. Brrr, irgendwie ungehörig …Bei einem anderen Stück Fleisch hätte ich nicht daran gedacht, dass es noch gestern zu einem lebendigen Tier gehörte …

Linus sitzt erst tapfer mit am Tisch, dann verdrückt er sich mit einem Comic unter den Tisch und hält sich die Ohren zu, weil er das quatschende Geräusch nicht hören will, das entsteht, wenn ich mit Daumen und Zeigefinger komische Weitungsbewegungen ausprobiere.

Ich muss da jetzt durch!

Nach etwa zehn Minuten passen zwei Finger in die Blase, nach einer halben Stunde bin ich schweißgebadet von all dem Geziehe und Gezerre. Immerhin wird das Gewebe wirklich dünner, das Loch größer. Ich ekle mich vor gar nichts mehr, ich will nur, dass die Blase endlich über die Öffnung der Zwanzig-Zentimer-Dose passt.

Und tatsächlich: Irgendwann ist der kritische Punkt überwunden. Die Blase fügt sich ihrem Schicksal. Nach einer Stunde ist sie zwei Hände breit gezerrt und fast durchsichtig. Ich stecke den Pin von unten durch die kleine Öffnung des Harnröhrenfortsatzes, wie durch einen Mini-Strumpf. Meine Jubelrufe locken Linus unter dem Tisch hervor.

Die Blase sieht jetzt aus wie die Felle der Trommeln im Eine-Welt-Laden. Linus erklärt sich unter Seufzen bereit, die löchrigen Gummihandschuhe anzuziehen und mir zu helfen, die Dose zu bespannen. Es klappt! Schnell jetzt Bindfaden drum! Alles mit Leim festgeklebt. Und eine Woche trocknen lassen.

4. Dezember

Habe heute die Telefonnummer von Rolf Matthiesen gewählt, dem Mann mit der Internetbauanleitung. Seine Frau war dran, allerschönster Holsteiner Slang. „Tjo, Frau Kurth, wie soll das Ding denn auch rrrrummeln, wenn der Pin nich hohl is?“

Ich hatte es geahnt. Natürlich muss der Stab, der steif in der Schweinsblase steckt, hohl sein, damit ein Geräusch entstehen kann, wenn man ihn reibt! Ich hatte nur keinen hohlen Stab parat …

Wie stehen wir nun da, mit einem stummen Rummelpott?!

Zwar habe ich noch eine tiefgefrorene Schweinsblase, aber Frau Matthiesen sagt, das wär keine schöne Sache: „Die is doch nach’m Auftaun eher matschig, wenn Sie verstehn …“

Dafür aber besitzt ihr Mann noch einige Rummelpötte, von denen er vor drei Jahren ungezählte Stücke anfertigte, bis sämtliche Dorfkinder rund ums hochnördliche Brunsholm damit versorgt waren. Da oben scheint Hausschlachten noch an der Tagesordnung zu sein, jedenfalls lacht Frau Matthiesen über das niedersächsische Drama der Grundmaterialbesorgung. „Wir haben die immer von den Hausschlachtern besorgt, manchmal fünfzehn Stück auf’n Mal, für ganze Schulklassen.“

Fünfzehn Euro inclusiveVersand kostet der Profipott. „Jetzt macht mein Mann keine mehr. Das hat sich hier erschöpft, und die Hände zittern auch zu sehr“, meint sie. „Aber die Internetseite bleibt stehen. Wir wollen ja, dass der alte Brauch nicht untergeht.“

Ich habe also einen Rummelpott bestellt.

7. Dezember

Ein großes Paket kam mit der Post. Er ist es! Ein Rummelpott, der, das freut uns, fast genau so aussieht wie unserer. Und hohle Schilfrohrpins dazu, um den Laternenstab auszutauschen. Plus ein Zettel mit Gebrauchsanweisung für den Rummelpott: „Viel Spucke zwischen Daumen und Zeigefinger nehmen. Und dann gefühlvoll reiben!“ Ein dumpfes Grollen, sehr laut, mal tief, mal noch viel tiefer. Erbsen rappeln in der Dose. Unheimlich. Toll. Wirklich zum Geistervertreiben.

Ohne Spucke geht allerdings gar nichts. Und man braucht verdammt viel Spucke, damit es richtig tönt. Unmöglich, solche Mengen auf einer langen Rummelpotttour aufzubringen. Soll man sich etwa abwechseln?

„Die Erwachsenen kriegen beim Rummelpott doch immer Schnaps“, sagt Linus fasziniert. „Du musst dann eben Schnaps drauf spucken!“ Ja klar, mein kluges Kind!

Den selbstgebastelten stummen Pott konnte ich umrüsten. Er klingt jetzt genau so großartig wie der gekaufte! Mann, was werden die anderen an Silvester neidisch auf uns sein! „Prost Niejahr, schiet an’t ole Jahr!“

CORNELIA KURTH, geboren 1960 im hohen Norden Deutschlands, lebt heute in Rinteln, im eher südlichen Niedersachsen. Sie schreibt regelmäßig für das taz.mag. Als Rowohlt-Taschenbücher erschienen ihre Jugendromane „Frederikes Tag“ und „Ein Jahr mit neunzig Tagen“