DIE REAKTIONEN AUF DIE „KORAN-RICHTERIN“ ZEUGEN VON HYSTERIE: Die Islamisierung in den Köpfen
Dass jene hessische Richterin, die sich in einem Scheidungsfall auf eine Passage aus dem Koran berief, zumindest ein extrem unglückliches Händchen bewiesen hat, darüber besteht große Einigkeit. Türkische Zeitungen in Deutschland zeigten sich genauso entsetzt wie deutsche Kommentatoren. Auch muslimische Verbände haben die Juristin kritisiert, die sich zu einer höchst eigenmächtigen Koran-Interpretation verstiegen hatte. Und jeder Marokkaner kann nur den Kopf schütteln über den Fall. Denn Marokko besitzt ein recht fortschrittliches Familienrecht, Gewalt gegen den Ehepartner gilt auch hier als Scheidungsgrund.
Schon am vergangenen Mittwoch wurde die Juristin wegen „Befangenheit“ abgelehnt; seitdem ist sie nicht mehr mit dem Fall betraut. Nun muss sie damit leben, dass sie als „Koran-Richterin“ zu zweifelhaftem Medienruhm gelangt ist. Damit hätte diese Justizposse – denn um mehr handelt es sich nicht – erledigt sein können. Denn es besteht eigentlich kein Grund mehr zur Aufregung.
Die üblichen Populisten wie Alice Schwarzer, Henryk M. Broder und Edmund Stoiber stört das freilich wenig. Die bizarre Episode bietet ihnen einmal mehr einen willkommenen Anlass, vor „islamistischer Unterwanderung“ zu warnen und ihren antimuslimischen Ressentiments freien Lauf zu lassen. Indem sie den Sinn von Liberalität und Religionsfreiheit anzweifeln, kommen sie rechtsextremen Volksverhetzern bedenklich nahe.
Auch die Bild-Zeitung und der Spiegel nutzen den Fall, um Überfremdungsängste zu schüren. Und Hessens Justizminister Jürgen Banzer will sogar dienstrechtliche Schritte gegen die Juristin prüfen lassen. Diese geballte Empörung lässt jedes Maß vermissen. Wie schon bei der Absetzung der „Idomeneo“-Oper in Berlin, handelt es sich dabei um einen deutschen Selbstverständigungsdiskurs über die „Wehrhaftigkeit“ unserer Demokratie, der – und das ist das Irritierende – völlig ohne jeden Anlass von muslimischer Seite auskommt.
Die Folgen solcher Hysterie aber müssen vor allem Muslime tragen. Am vergangenen Mittwoch gab es in Berlin auch einen Brandanschlag auf die Baustelle einer Moschee. Die Empörung darüber fiel im Vergleich eher dürftig aus. DANIEL BAX
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen