: Opfer christlicher Ränke
Cem Sultan, osmanischer Herrschersohn, suchte vor fünfhundert Jahren Anschluss an Europa – und fand keine Unterstützung
von JÜRGEN GOTTSCHLICH
„Oh mein Gott! Wenn die Feinde des Glaubens sich meiner bedienen sollen, um wider die Bekenner des Islams verderbliche Pläne auszuführen, so lass mich diese Tage nicht erleben, sondern nimm meinen Geist ehestens zu dir.“ Dieses Stoßgebet sollen die letzten der überlieferten Worte desjenigen osmanischen Sultans gewesen sein, der als erster Türke die Erfahrung machen musste, die nach ihm noch Millionen seiner Landsleute auf dem Weg gen Westen gemacht haben: Auf dem Weg nach Europa gibt es viele Fallgruben und wenig Halt.
Cem Sultan, jüngster Sohn Mehmets II., der als Eroberer Konstantinopels einen besonderen Platz in der Geschichte des Osmanischen Reiches einnimmt, war der erste prominente Grenzgänger zwischen Osmanen und christlichen Herrschern. Er suchte Unterstützung im Westen und fand doch kaum mehr als Intrige, Borniertheit und Kerkerhaft. Vielleicht wäre die Geschichte Europas im 15. und 16. Jahrhundert anders verlaufen, wenn die christlichen Monarchen auf den Auftritt des osmanischen Prinzen klüger reagiert hätten. Und vielleicht verliefe die Diskussion um die Zugehörigkeit der Türkei zu Europa heute ganz anders.
Denn Cem Sultan, der in seiner Heimat bis heute als tragische Figur gilt, war so etwas wie das erste personifizierte Beitrittsgesuch der Türken zur europäischen Familie. Es war der 26. Juli 1482, als Cem Sultan und eine Schar seiner Getreuen in Anamur, am Südzipfel Anatoliens, ein Schiff des Johanniterordens bestieg und auf Einladung des Ordensgenerals Pierre d’Aubusson nach Rhodos segelte. Cem war auf der Flucht. Im Bruderkrieg um das Erbe Mehmets II. war er seinem älteren Bruder Beyazit unterlegen und suchte nun neue Verbündete.
Eine Allianz mit dem ägyptischen Sultan Kaitbais war gescheitert, der Fluchtweg nach Ägypten für Cem also versperrt. Derart bedrängt, traf der 22-jährige Prinz eine aus heutiger Sicht erstaunliche Entscheidung. Statt vor dem Heer seines Bruders nach Osten zu flüchten, um sich neue Freunde in Persien zu suchen, wandte sich Cem dem Westen zu – und traute einer Offerte der christlichen Ritter auf Rhodos, gegen die sein Vater Jahre zuvor eine Flotte entsandt hatte, um diesen Vorposten im östlichen Mittelmeer zu erobern.
Offenbar war das Weltbild des osmanischen Prinzen wenig festgelegt und der Weg nach Rhodos viel weniger ein Sprung auf die andere Seite, als es heute scheint. Für ihn war es vielmehr ein logischer Schritt: Der Feind meines Feindes sei mein Freund. Für diese Annahme gibt es etliche Hinweise in der Biografie Cems: Ihm war die christliche Welt nicht so fremd, wie es für einen osmanischen Prinzen scheinen mag, weil seine Mutter, eine Angehörige des königlichen Hauses von Serbien, wiewohl im Harem des Sultans, zeit ihres Lebens bekennende Christin blieb.
Sein Vater, der Eroberer Konstantinopels, galt in religiösen Angelegenheiten als tolerant bis desinteressiert, was ihn dazu befähigte, nach der Eroberung der byzantinischen Hauptstadt eine kluge Integrationspolitik zu betreiben. Er erkannte sowohl die griechisch-orthodoxe Kirche als auch die armenische Kirche ausdrücklich an und ließ sie als selbstverwaltete Gemeinden zu.
Als Cem 1482 nach Rhodos ging, war Byzanz erst knapp dreißig Jahre zuvor erobert worden, die Sultane waren noch nicht gleichzeitig Kalifen der islamischen Welt. Vielmehr begriff sich Mehmet II. als Nachfolger des letzten byzantinischen, also oströmischen Kaisers denn als Speerspitze des Islam.
Cem ging also nach Rhodos, weil er sich von den christlichen Johanniterrittern Unterstützung dabei versprach, ein neues Heer aufzustellen, mit dessen Hilfe er den Thron in Istanbul erobern konnte. Cem kannte d’Aubusson, weil er vier Jahre zuvor im Auftrag seines Vaters mit den Johannitern im Anschluss an die misslungene Belagerung der Insel einen Friedensvertrag aushandeln sollte. Dabei waren sich beide Seiten bewusst, dass es früher oder später erneut zu einem Krieg kommen würde, weil die Osmanen diesen Vorposten der Kreuzritter im östlichen Mittelmeer angreifen würden, um ihre Schifffahrtslinien zwischen Kairo und Istanbul zu sichern. Cem wusste, dass d’Aubusson exzellente Beziehungen zum französischen König wie zum römischen Papst pflegte und Rhodos deshalb ein gutes Sprungbrett auf dem Rückweg nach Istanbul sein konnte.
Doch der Mann, der als Erster aus dem osmanischen Imperium auf die Weitsicht der europäischen Monarchen setzte, wurde herbe enttäuscht. Kaum auf Rhodos gelandet, musste Cem Sultan erkennen, dass er zum Spielball der Ordensritter geworden war. Statt den jungen, religiös und ideologisch offenen Prinzen gegen seinen Bruder Beyazit zu unterstützen, machte d’Aubusson umgehend einen Deal mit dem konservativen Traditionalisten Beyazit.
Für vierzigtausend Golddukaten jährlich und die Zusicherung, Rhodos nicht anzugreifen, versprach d’Aubusson Beyazit, seinen Bruder Cem aus dem Verkehr zu ziehen. Cem, der zunächst in Rhodos wie der zukünftige Befreier Konstantinopels in allen Ehren aufgenommen worden war, wurde von den Kreuzrittern, nach einer Zwischenstation in Nizza, in Absprache mit dem französischen König auf einer ihrer Burgen in Mittelfrankreich versteckt und dort sieben Jahre unter kärglichsten Bedingungen gefangen gehalten.
Doch die Ordensritter konnten den Raub des Sultanssohnes, der nach wie vor über viele Anhänger im Osmanischen Reich verfügte, nicht geheim halten. Etliche europäische Herrscher versuchten sich seiner zu bemächtigen – nicht um ihn gegen das Osmanische Reich, der stärksten Militärmacht Europas, einzusetzen, sondern um sich die Golddukaten Beyazits zu sichern.
Vor allem der Papst brauchte dringend Geld. Im Gerangel um Cem bediente sich der Oberhirte des katholischen Klerus dem französischen König Karl VIII. gegenüber eines Angebots, das dieser schlecht ablehnen konnte: Cem sollte unter Leitung des Papstes in einem neuen Kreuzzug zur Wiedereroberung Jerusalems eingesetzt werden. Der Schweizer Historiker Hans Pfeffermann konnte in einer hoch interessanten Studie über die Zusammenarbeit der Renaissancepäpste mit den Türken nachweisen, dass der Kreuzzugsgedanke im ausgehenden 15. Jahrhundert längst nur noch dazu diente, den Päpsten deren Legitimierung als Sprecher der Christenheit schlechthin zu sichern.
Praktisch jedoch dachte weder Innozenz VIII., der Cem in seine Gewalt brachte, und noch viel weniger sein Nachfolger, der Borgia-Papst Alexander VI., daran, sich in das Abenteuer eines Kreuzzuges zu stürzen, auch wenn sie öffentlich pausenlos das Gegenteil behaupteten. Innozenz VIII. sichert sich Cem, weil er dem französischen König Karl VIII. in einem Geheimvertrag mehrere kirchliche Dispense zusichert. Mit ihnen konnte er Anne de Bretagne heiraten, die nicht nur mit einem anderen verlobt, sondern auch noch eine nahe Verwandte des französischen Monarchen war. D’Aubusson, der tapfere Ritter der Christenheit, bekam für Cem einen Kardinalshut und die Zusicherung hoher kirchlicher Pfründen.
Für den chronisch klammen Innozenz VIII. war der gefangene Cem ein Unterpfand zur Abwendung der Staatspleite. Die vierzigtausend Golddukaten, die Beyazit nach dem Wechsel seines Bruders von Frankreich nach Rom an den Papst übergeben ließ, damit dieser von seinem Kreuzzugsplan absah, stellten immerhin sechzig Prozent der gesamten Einnahmen des Kirchenstaates dar.
Wie wenig dem christlichen Abendland tatsächlich an Jerusalem lag, wurde in den Händeln um Cem nur zu deutlich. Beyazit war durch Kundschafter an den europäischen Höfen über die dort gepflegten Intrigen bestens informiert. Und über Emissäre aus venezianischen und genuesischen Händlerfamilien, die Niederlassungen in Istanbul unterhielten, seit Cems Abgang nach Rhodos in den europäischen Angelegenheiten kräftig mitmischte, machte Karl VIII. Beyazit ein pikantes Angebot: Nicht nur Golddukaten sollte der französische König bekommen, wenn er Cem dem Papst vorenthielt – Beyazit war auch bereit, Karl VIII. vertraglich Jerusalem abzutreten, vor dessen Eroberung die Osmanen sich just befanden. Doch Karl war der Rock näher als die Heilige Stadt – er entschied sich für den Dispens.
Cem dämmerte natürlich bereits nach wenigen Wochen auf Rhodos, dass er einen schrecklichen Fehler begangen hatte. Er versuchte sich aus der Kreuzritterfalle zu befreien, doch d’Aubusson ließ ihn streng überwachen und fing seine gesamte Korrespondenz ab. Erst später gelang es Cem, über Kuriere Kontakt zu seiner Mutter aufzunehmen, die im Exil am Sultanshof in Kairo lebte. Die Sultansmutter konnte zwar ihren ägyptischen Gastgeber davon überzeugen, dass ein Zweifrontenkrieg gegen Beyazit für alle Seiten vorteilhaft wäre, doch die europäischen Monarchen ließen sich auch von Sultan Kaitbais nicht aus ihren Geschäften reißen.
Cem, der zuerst in seiner französischen Gefangenschaft und auch später in Rom immer wieder in kummervolle Depressionen verfiel, flüchtete sich in Poesie und Völlerei. Dabei musste er andauernd damit rechnen, einem Anschlag zum Opfer zu fallen, denn erst sein Tod würde Beyazit endgültig Ruhe verschaffen.
Mehrmals wurde versucht, ihn zu vergiften. Doch der von Zeitzeugen als tapfer und mutig geschilderte Cem trug durch politisches Unvermögen auch selbst zu seiner misslichen Lage bei. Mit dem einzigen ernsthaften Interessenten an einer Zusammenarbeit gegen Beyazit, dem ungarischen König Mathias Corvinus, lehnte Cem eine Zusammenarbeit ab, weil dieser forderte, Cem müsse nach einem erfolgreichen Feldzug gegen Beyazit die balkanischen Gebiete und Istanbul-Konstantinopel abtreten. Darauf konnte Cem nicht eingehen, um nicht als jener Sultan in die Geschichte einzugehen, der die europäischen Gebiete des Osmanischen Reiches verlor. Sein Ziel war ja gerade, sein Reich in Europa fest zu verankern. Als Mathias Corvinus 1490 überraschend starb, wurde Cem endgültig zum Spielball der konkurrierenden Mächte.
Mit dem Borgia-Papst Alexander VI., der 1492 die Nachfolge von Innozenz antrat, verabredete Beyazit für dreihunderttausend Golddukaten die Ermordung Cems. Doch dazu kam es nicht mehr. Karl VIII. besetzte Ende 1494 auf einem Feldzug zur Eroberung des Königreichs Neapel kurzzeitig Rom und nahm dem Borgia Cem ab. Auf dem Weg nach Neapel erkrankte Cem und starb am Tag der Eroberung der Stadt, am 25. Februar 1495, im Alter von 36 Jahren. Er wurde, so viel ist offen, entweder von einem Agenten Beyazits oder des Papstes vergiftet.
Mit dem Tod Cems ist die Chance einer europäischen Einbindung des Osmanischen Reiches für mehrere Jahrhunderte vertan worden. Der Nachfolger Beyazits, Selim III., erobert Ägypten, Jerusalem und die Heiligen Stätten in Mekka und Medina. Die Osmanen werden endgültig zur islamischen Vormacht. Nur 34 Jahre nach Cems Tod steht Süleiman der Prächtige 1529 erstmals vor den Toren Wiens.
JÜRGEN GOTTSCHLICH, Jahrgang 1954, ist taz-Korrespondent und lebt in Istanbul
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen