: „Wer positiv ist, fickt meist ohne“
Erstmals seit 1993 steigt in Berlin wieder die Zahl der Infektionen mit dem HI-Virus. Anlässlich des Weltaidstags am Sonntag warnen Experten vor Präventionsmüdigkeit. Bessere Therapiemöglichkeiten führten zu einem laxeren Umgang mit Safer Sex
von BIANCA KOPSCH
Kein Licht, kein Plüsch, kein Wort. Nur Sex. Wenn in den düsteren, kahlen Hinterzimmern der Berliner Schwulenbars halbnackte Männer mit jenen besonderen Blicken auf Gesellschaft warten, wollen sie nur eins: Sex mit Wildfremden. Gesprochen wird dort kaum. Auch nicht über Aids. „Da fragt man nicht: Bist du positiv? Hast du dich testen lassen? Wollen wir ein Gummi nehmen? Da passiert alles absolut geräuschlos. Vielleicht fragt man sich hinterher nach dem Namen, viel mehr aber nicht“, beschreibt Arturo Mester die Situation in den „Darkrooms“ der Schwulenszene.
Aber nicht nur dort wird das Thema Safer Sex totgeschwiegen, meint der 42-jährige Lebenskundelehrer aus Friedrichshain. Er ist selbst schwul und hat früher in einem Beratungszentrum für homosexuelle Männer und Frauen gearbeitet. „Sexualität ist auch in der Schwulenszene ein Tabuthema. Über das eigene Sexualverhalten wird kaum geredet. Nur wenige geben zu, dass sie auch ohne Gummi vögeln“, sagt Mester.
Erstmals seit 1993 diagnostizieren Epidemologen in Berlin wieder einen Anstieg der Zahl von Infektionen mit dem Aidsvirus HIV. Anlässlich des Weltaidstages an diesem Sonntag warnt der Geschäftsführer der Berliner Aids-Hilfe (BAH), Kai-Uwe Merkenich, vor dieser gefährlichen Entwicklung. Er bezieht sich dabei auf Hochrechnungen des Robert-Koch-Instituts (RKI), das bundesweit die entsprechenden Statistiken führt – und die geben allen Grund, Alarm zu schlagen:
So geht das RKI für dieses Jahr von 350 Neuinfektionen in Berlin aus. Besonders schwule Männern um die 30 seien davon betroffen, sagt die Ärztin Marianne Rademacher von der BAH. „Es gibt eine allgemeine Präventionsmüdigkeit. Viele Leute werden unvorsichtiger und sorgloser in ihrem Umgang mit geschütztem Sex, weil es verbesserte Therapiemöglichkeiten gibt, die Leute mit HIV länger leben lassen.“
Geschwollene Lymphknoten, Lungenentzündung, Gelbsucht – und schließlich der Tod. Das sind Aids-Szenarien aus der Vergangenheit. „Heute ist Aids keine richtige Todesdrohung mehr. Der Verlauf der Krankheit ist mittlerweile eher chronisch als tödlich: wegen der fortgeschrittenen Behandlungsmöglichkeiten. Das nimmt Aids etwas von seinem Schrecken. Dies wird auch in den schwulen Medien so dargestellt. Das Bewusstsein in der Schwulenszene gegenüber Aids hat sich in letzter Zeit auf jeden Fall verändert“, sagt Arturo Mester.
Andreas W. (29) sieht das auch so. Seit sieben Jahren bewegt er sich in der Berliner Schwulenszene. Jetzt macht er im Prenzlauer Berg einen eigenen Club auf. „Safer Sex ist immer weniger ein Thema. Die Szene ist in den letzten drei bis vier Jahren hedonistischer geworden. Die Risiken, sich mit HIV zu infizieren, werden leichtfertiger in Kauf genommen“, sagt er. „Wer schon positiv ist, fickt sowieso meist ohne Gummi“, meint Andreas W.: „Viele denken sich dann: Jetzt erst recht nicht mehr!“ Die Gefährdung anderer spielt dabei für viele keine entscheidende Rolle mehr.
Die „Bareback-Partys“ seien in den letzten zwei Jahren wieder mehr geworden, berichtet Andreas W.: Dort treffen sich schwule Männer zum Feiern und Vögeln – ohne Gummi. Aber nicht nur dort wird auf Safer Sex verzichtet. Auch auf anderen Partys, in Clubs, Bars, Kinos, Saunen oder auch privat haben Schwule ungeschützten Sex. Drogen und Alkohol sind da oft mit im Spiel, sagt Andreas W.: „Ich habe auch ab und zu unsafen Sex. In Situationen von leichter oder starker Berauschtheit ist mir das manchmal einfach zu lästig.“ Hinterher nagt dann das schlechte Gewissen: „Natürlich weiß ich, dass es nicht korrekt ist, unsafe zu ficken. Das weiß wohl jeder. Trotzdem gibt es in der Schwulenszene eine Doppelmoral: Jeder weiß um seine eigene Fehlbarkeit. Viele vögeln ohne Gummi, aber kaum einer gibt es zu.“ Er selbst hat bisher Glück gehabt. Er war gerade erst beim Aidstest, sagt er: negativ.
Arturo Mester hat sich noch nie testen lassen. „Ich verhalte mich immer safe, gehe beim Sex kein Risiko ein. Wenn ein Mann das nicht mitmachen möchte, gehe ich.“ Mester kennt viele schwule Männer, die sich mit HIV infiziert haben. Einige davon leben heute nicht mehr. „In meiner Generation hat es etliche getroffen. In den Achtzigerjahren war ja noch wenig klar, wie man sich davor schützen kann“, sagt er. Die Aufklärungskampagnen hätten ihm dann geholfen herauszufinden, wie er sich verhalten soll. Seitdem habe er nur noch geschützen Sex gehabt.
Doch auch mit seinem Partner, mit dem er seit 8[1]/2 Jahren zusammen ist, spricht Mester kaum über Safer Sex, sagt er. Das Kondom gehört für sie einfach dazu. Beide haben auch noch mit anderen Männern Sex. „Man kann nicht völlig rational über sein Sexualverhalten sprechen. Da geht es um Lust, Rausch, Ekstase und auch um Ängste. Gleichzeitig die Gefahr einer HIV-Ansteckung zu diskutieren ist ein Widerspruch in sich.“ Was bleibt, um sich zu schützen, ist schlichtweg „safe“ handeln, sagt er – und das geht auch ohne Worte.
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