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Verschwende deine Jugend

Die Ausstellung „Game On“ im Londoner Barbican erzählt vom schrankwandgroßen PDP-1 bis zum Hype um das Mafia-Game „Grand Theft Auto 3“ die Geschichte des Computerspiels. In Deutschland wäre der Technikparcours undenkbar, weil er auf kritische Kommentare zur simulierten Gewalt verzichtet

von TILMAN BAUMGÄRTEL

Es piepst, es pfeift, es knallt und tutet. So laut geht es auf Ausstellungen selten zu. Wer sich bei der documenta schon über zu viel medialen Input beklagt hat, dürfte hier wahrscheinlich schnell durchdrehen: In der Ausstellung „Game on“ im Londoner Barbican Kulturzentrum wird man ununterbrochen mit elektronischem Lärm beschallt. In den Ausstellungshallen, in denen sonst älteres Publikum leise Präsentationen von Fotografie und Malerei abschreitet, toben Kinder und Teenager um die Exponate und durch die Gänge.

Der Lärm kommt aus hunderten von Rechnern und Spielkonsolen. Denn „Game on“ erzählt die Geschichte des Computerspiels. Kurz nach ihrem 40. Geburtstag sind nun auch Computerspiele museumsreif geworden und werden von Barbican mit einer riesigen und aufwendig ausgestatteten Ausstellung gewürdigt. In der Pressemappe wird fast der Eindruck erweckt, als sei die Schau eine Art Affirmative Action Programm für junge Männer, die sonst eher selten ihren Weg in Kulturinstitutionen finden. „Game On“ ist nach „The Art of Star Wars“ – über die Gestaltung der „Krieg der Sterne“-Filme – schon die zweite Ausstellung am Barbican, die versucht, diese Zielgruppe von der Straße wieder in ein Museum zu locken.

Bei „Game On“ erfährt sie nicht bloß allerhand über die Entwicklung einer eigenen Sprache von Computerspielen, sondern kann diese vor allem auch spielen. Über 150 Games können die Besucher selbst ausprobieren – aber bitte keins länger als fünf Minuten: Um den Publikumsandrang unter Kontrolle zu behalten, gelten die Eintrittskarten nur zwei Stunden.

So viel Zeit könnte man freilich schon im ersten der insgesamt 15 Säle verbringen, in dem die frühesten Computerspiele zu besichtigen sind. Auf dem PDP-1, einem Computer von der Größe einer Wohnzimmerschrankwand, entwickelte 1962 der Student Steve Russell am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Boston das Spiel „Space War!“, das heute als erstes Computerspiel gilt. Gleich neben dem unförmigen Rechner steht eine „Pong“-Konsole von Atari. Mit dem kleinen weißen Punkt, der wie eine Pingpong-Kugel zwischen zwei weißen Strichen hin und her flog, begann 1972 die Entwicklung kommerzieller Computerspiele, die in Bars und Spielhallen aufgestellt wurden.

Es sind vor allem Männer über 30, die länger bei diesen computerisierten Spielautomaten aus den 70er- und frühen 80er-Jahren stehen bleiben und eine nostalgische Runde „Tempest“, „Space Invaders“ oder „Asteroids“ nach der anderen einlegen. Die meisten der Konsolen dürfte man hier wohl zum letzten Mal benutzen können, denn die wenigen Geräte, die es heute noch gibt, sind alt und gehen schnell kaputt. In diesem Raum findet sich auch „Pac Man“, das erste Spiel, das eine eigene Hauptfigur mit einem gewissen Identifikationspotenzial besaß, und „Donkey Kong“, in dem der bis heute aktive, knollennasige italienische Installateur Super Mario seinen ersten Auftritt hatte. Wie man nebenbei erfährt, ist Super Mario bei amerikanischen Kindern unter 10 heute bekannter als Mickey Mouse.

Es folgen Präsentation von wichtigen Spielkonsolen und Spielen der Gegenwart – bis hin zu den Karatehieben bei einer Partie „Mortal Kombat“. Beleuchtet werden auch die verschiedenen Gamer-Kulturen in den USA und Japan. Die Amerikaner bevorzugen harte Ballerspiele, während in Japan kontemplative Games, bei denen man mit einer Angel in einem virtuellen Teich fischt oder eine U-Bahn durch Tokio lenkt, zu den Verkaufserfolgen zählen.

Hierzulande würde wahrscheinlich schon die unkommentierte Präsentation von ausschließlich kommerziellen Spielen Proteste auslösen. Dieser Art von Marketing steht „Game on“ relativ unkritisch gegenüber. An vielen Stellen der Präsentation merkt man auch, dass neben Barbican-Kurator Conrad Bodman mit Lucien King ein ehemaliger Videospielproduzent am Werk war, der sich sehr für Konsolentypen und Chipgeschwindigkeiten interessiert, aber kaum für Videospiele als soziokulturelles Phänomen. Die schriftlichen Kommentare sind dürftig, sie gehen neben den wesentlich aufmerksamkeitsintensiveren Spielen unter. Auch die zehn Kunstwerke, die das Barbican als Begleitung zur Ausstellung in Auftrag gegeben hat, gehen im Getöse von „Max Paine“, „Super Mario World“ und „Wolfenstein“ recht sang- und klanglos unter.

In Deutschland wäre eine derartige Ausstellung im Augenblick wohl unmöglich. Zu tief steckt noch der Schock des Erfurter Amoklauf, der ja auch Computerspielen angelastet wurde – ob zu Recht oder zu Unrecht, sei mal dahingestellt. „Game On“ ignoriert die Frage, ob es einen Zusammenhang zwischen Games und Jugendgewalt gibt, und konzentriert sich ganz auf die Ästhetik und die Geschichte des Computerspiele.

Diese Unverkrampftheit geht so weit, dass die Ausstellung sogar das Entstehen des Spiels „Grand Theft Auto 3“ minutiös dokumentiert. „GTA 3“, wie es von seinen Fans kurz genannt wird, ist schon Gegenstand von hitzigen Debatten im britischen Unterhaus und im amerikanischen Senat gewesen, wo es als „Anleitung zu einer Verbrecherkarriere“ bezeichnet wurde. Denn Ziel des Spiels ist es, zum Boss eines Mafiasyndikats aufzusteigen; Mord, Drogenhandel und Verfolgungsjagden mit der Polizei gehören dabei zu den „Missionen“, an denen der Spieler sich versuchen muss.

In einem eigenen Raum wird die Entstehung des Spiels, das von einer schottischen Tochterfirma des amerikanischen Spieleherstellers „Rockstar Games“ entwickelt worden ist, in aller Ausführlichkeit dargestellt. Man sieht Bleistiftsskizzen von den verschiedenen Spielfiguren, einen Plan des Spielfeldes, eine Art Stammbaum aller Mitarbeiter und sogar einen Auszug aus dem Computercode des Spiels. Bloß spielen kann man dieses Spiel nicht – es ist in Großbritannien erst ab 18 freigegeben.

Bis zum 15. September im Barbican Art Center in London, ab 15. Oktober im Museum of Scotland in Edinburgh. Über weitere Stationen in Europa und den USA wird zurzeit verhandelt.

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