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Der neue lange Marsch

Als Revolution gescheitert, als Jugendbewegung erfolgreich: So, wie die 68er Uni und Gesellschaft modernisierten, werden die Dotcomkids die Konzerne verändern

Die Attitüde der New-Economy-Firmen wird noch viele Jahre die Leitkultur für junge Berufseinsteiger sein

Was haben sie gezittert, all die, die vor 30, 35 Jahren so gründlich mit ihren Eltern aufgeräumt hatten – und dann ihre eigenen Kinder heranwachsen sahen. In welche Antihaltung würden sich wohl ihre Sprösslinge begeben, um sich von den ach so emanzipierten Eltern zu emanzipieren?

Das Zittern kann nun eingestellt werden, es ist noch mal gut gegangen. Der nahe liegende Verdacht – „wir waren links, die werden rechts“ – hat sich nicht bewahrheitet, auch nicht die zweite, fast ebenso gefürchtete Variante: „Wir waren rebellisch, die werden spießig.“

Nein, die Damen und Herren Nachkommen wählten sich für ihre Rebellion einen Schauplatz, den viele ihrer Eltern noch nie zu Gesicht bekommen hatten: die freie Wirtschaft. Die Eltern gingen auf die Straße, um die Welt zu verändern. Die Kinder gingen an die Börse. Es nannte sich New Economy, und es war die wohl erste Jugendbewegung überhaupt, die sich rein in der ökonomischen Sphäre abspielte.

Jugendbewegung? Klar. Typisch für Jugendbewegungen ist es, dass sie als Revolution starten. Die Poeten des Sturm und Drang wollten die Literatur revolutionieren, die 68er die Gesellschaft und die Dotcoms die Ökonomie. Doch während eine erfolgreiche Revolution als eine solche im Gedächtnis haften bleibt, mutiert eine gescheiterte zur Jugendbewegung – weil es ihr nicht gelang, den Lauf der Welt zu verändern, wohl aber das Leben der Betroffenen.

In ihren wilden Jahren kam die New Economy tatsächlich ziemlich revolutionär daher. Da schien es, als liege die Weltwirtschaft ein paar fixen Jungs aus dem kalifornischen Silicon Valley zu Füßen, als könne eine einzige gute Idee innerhalb von wenigen Wochen hundertjährige Konzerngiganten fällen. Auf jeden Fall zogen die Top-Absolventen der Top-Business-Schools plötzlich in Scharen gen Westen, ins Tal, wo die Garagen blühten.

Einen kurzen Sommer der Anarchie hindurch schien alles möglich. AOL kauft Time-Warner, Amazon hätte die Metro schlucken können, Yahoo hatte Appetit auf Disney, the winner takes it all. Alle waren sie jung, hatten heute Fun und morgen Millionen, es war die Zeit der großen Gefühle: Gier und Großzügigkeit, wahre Freundschaft und enttäuschtes Vertrauen, Verrat und Eifersucht und Leidenschaft und alles in atemraubender Folge.

Das ist der Stoff, aus dem Legenden sind. Das sind die Geschichten, die man in vierzig Jahren seinen Enkeln erzählen kann. Das prägt eine ganze Generation. So wie ein roter Dany auf den Barrikaden in Paris, Jimi Hendrix in Woodstock oder Benno Ohnesorg auf dem Pflaster in Berlin.

Damals war, wie sich schnell zeigte, längst nicht alles möglich, was möglich schien. Eine Erfahrung, die heute auch die Protagonisten der New Economy machen. Es ist eben doch nicht so einfach, durch Verschleudern von extra viel Geld noch extra viel mehr Geld von Venture-Kapitalisten oder Aktionären einzusammeln. Und so ganz total falsch und veraltet war es auch nicht, was die Menschen sich so vor Erfindung der New Economy an Firmen gebastelt hatten. „Buchclub frisst Napster“ resümierte Bertelsmann-Chef Thomas Middelhoff im Sommer 2000.

Von den Feuerköpfen von 1968 hat einzig Dany Cohn-Bendit Einfluss und Würde in die Jetztzeit hinüberretten können. Die anderen – tot, verwirrt, verbittert, Veteranen einer verlorenen Schlacht. Doch die Mitläufer und Nachzügler von 68, die haben die Macht in Deutschland übernommen – am Kiosk, am Bildschirm, im Kanzler- und Außenamt, Veteranen eines gewonnenen Krieges. Auch von den Rädelsführern der New Economy in den USA und in Deutschland wird nicht viel übrig bleiben.

Der Erfolg ihrer Firmen sollte Symbol für den Beginn einer neuen Zeit sein – dass erst mit ihrem Scheitern die neue Zeit beginnen konnte, wird sie verbittern. Sie werden in der Geschichte aufgehen. Dafür werden uns zwei Folgen der New Economy noch ein bis drei Jahrzehnte beschäftigen: die Modernisierung der attackierten Institutionen und die mediale Verklärung der revolutionären Attitüde. Wie das aussehen wird, zeigt die Analogie zu den Stürmern und Drängern von 1782 und 1968.

Erstens: Modernisierung. Der Sturm und Drang räumte mit dem höfischen Theater gründlich auf. Nie zuvor hatte sich das Publikum so ergreifen lassen wie 1782 bei der Mannheimer Uraufführung der „Räuber“ von Schiller. Damit etablierte sich in Deutschland das Theater als Bildungs- und Unterhaltungsmedium des Bürgertums.

Die Institution, die die 68er am heftigsten attackierten – und dann am gründlichsten übernahmen –, war die Universität. Nirgends haben sich so viele Studentenbewegte der zweiten und dritten Stunde hauptberuflich breit gemacht. So sehr sie auch heute dem Fortschritt im Weg sitzen, vor drei Jahrzehnten zwangen sie die Universität zum Anschluss an die Moderne.

Die Helden der New Economy hätten am liebsten den Konzern eliminiert. Und so wie vor dreißig Jahren die Universitäten werden in den kommenden Jahren die Konzerne durch den langen Marsch der Angreifer in die Moderne katapultiert werden. Die Netzwerk-Freaks werden dort Planung, Strategie und Management wegrationalisieren, all das, was in der Industriegesellschaft so dringend gebraucht wurde, aber völlig ungeeignet ist, um in der Wissensgesellschaft bestehen zu können. Die Konzerne werden so viel Freiraum lassen, lassen wollen, lassen müssen, dass von dem Feindbild, das sie heute noch darstellen, nichts übrig bleiben wird.

New Economy war die erste Jugend-bewegung, die sich in der ökonomischen Sphäre abspielte

Zweitens: Verklärung. Auch wenn das großartige Gefühl, Teil einer gerade tobenden Revolution zu sein, nicht wieder zurückkehren wird: Die, die es miterlebt haben, werden ihr Leben lang davon zehren. Und die, die es verpasst haben, werden noch viele Jahre lang versuchen, einen Abklatsch der großen Aufbruchstimmung mitzuerleben.

So war vier Jahre nach „Werther“ in Deutschland die „Werthertracht“ der letzte Schrei: ungepudertes Haar, runder Filzhut, blauer Frack, gelbe Weste und Hose, braune Stulpenstiefel. Dass das bezechte Lallen pathetischer Verse im Marktplatz-Brunnen noch kein Beleg für literarisches Talent ist, sprach sich erst ein weiteres Jahrzehnt später herum.

Die Studentenbewegung von 1968 wiederum verklebte noch zwei Jahrzehnte später die Hirne der nachgewachsenen Studenten. Jede Protestveranstaltung gegen Prüfungs- oder Bibliotheksordnung weckte bei den Beteiligten die Hoffnung, den „Geist von 68“ wieder auferstehen zu lassen.

Ähnlich wird es sich mit dieser Jugendbewegung verhalten: Die Attitüde der New-Economy-Firmen wird noch viele Jahre die Leitkultur für junge Berufseinsteiger sein. Warum auch nicht – schließlich handelt es sich bei ihr um den volkswirtschaftlich wertvollsten Weg, in jungen Jahren Extremerfahrungen zu sammeln. Andere heute gängige Wege, etwa Brandanschläge, Bandenkriege und Besäufnisse, sind weit weniger angenehm und wertschöpfend. DETLEF GÜRTLER

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