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„Es ist eine schöne Stadt“

Ein Gespräch mit dem britischen Autor Bill Broady über die Unruhen in der englischen Stadt Bradford und die Rolle der Medien, über multikulturelle Gesellschaften und seinen Roman „Die Schwimmerin“

von BRIGITTE NEUMANN

taz: Sie leben in Bradford. Nach den jüngsten Unruhen dort schrieben die Zeitungen, es gebe einen neuen Krieg „Weiß gegen Schwarz“ in England. Wie sehen Sie das?

Broady: Ich glaube, einige der britischen Medien haben da ein sehr irreführendes Bild der Vorgänge gezeichnet. Ich bin in Leeds geboren, das ist sehr nahe bei Bradford, war dann ungefähr 20 Jahre lang nicht in der Gegend und bin vor 10 Jahren nach Bradford zurückgekehrt. Wenn ich dort bin, lebe ich in der Inner City, in Frizinghall, dort wo die Unruhen üblicherweise beginnen. Es muss einmal gesagt werden, dass die Sache mit den rechtsradikalen Weißen-Gangs total erfunden ist.

Niemand hat diese Banden jemals gesehen. In Wirklichkeit handelt es sich bei den Unruhen in Bradford um eine Konfrontation, die sich zwischen einer gewissen Zahl unzufriedener, zu Recht unzufriedener asiatischer Teenager und der Polizei zusammenbraute. Und zwar begann das schon vor zehn Jahren. Genauso wenig wie weiße Rechtsradikale gibt es in Bradford islamische Fundamentalisten. Sondern nur einen Haufen junger Männer, die sich an kein Gesetz halten und arbeitslos sind. Unter den jungen Männern asiatischer Abstammung beläuft sich die Arbeitslosigkeit auf etwa fünfzig Prozent. Das sind außerdem Menschen, die unter dem Rassismus der örtlichen Erziehungs- und Wohnungsbehörden ihr ganzes Leben lang zu leiden hatten. Und die sind unglaublich wütend, unglaublich konfus und gehen auf die Straße, um ihre begründete Wut abzureagieren, aber sie greifen die falschen an, nämlich ihre eigenen Gemeinschaften. Meines Erachtens haben die Revolten in Bradford nur eins gebracht, die Nachbarschaft in Trümmer zu legen. Weiter nichts.

Aber überall las man von Provokateuren aus dem rechtsradikalen Lager. Auch Sprecher der von den Unruhen betroffenen Wohnblocks wollen sie gesehen haben . . .

Es scheint mir die einfachste Methode zu sein, immer die rechtsradikalen weißen Gangs zu beschuldigen. Es gibt Städte in England, in denen die Rechten sehr stark sind. Aber Bradford ist keine davon. Es gibt dort keine „National Front“ und kein „British Movement“, einfach weil die Anhänger dieser Gruppen viel zu viel Schiss haben, sich in Bradford zu bewegen. Sie sind zahlenmäßig hoffnungslos unterlegen und viel zu schlecht bewaffnet. In Leeds ist die „National Front“ sehr stark, aber auch dort bleiben sie in ihren Vierteln und trauen sich nicht raus. Die Wahrheit ist: Die Rechten mussten in Bradford gar nicht auftreten, denn auch ohne ihre Präsenz ist die Situation dort explodiert.

Was muss die Politik tun, um die Situation in Bradford wieder zu beruhigen und in den Griff zu bekommen?

Das ist die große Frage. Ich denke, vor zehn Jahren hätte man da noch was machen können, aber jetzt ist der Karren im Dreck. Das sehen die Leute vor Ort auch so. Ich weiß keinerlei kurzfristige Lösungen des Problems.

Was macht Sie so pessimistisch?

Wissen Sie, in den Inner Citys von Bradford haben Sie eine Generation asiatischer junger Männer – die jungen asiatischstämmigen Frauen sind noch mal ein ganz anderes Kapitel –, die hängen irgendwo zwischen zwei Kulturen und sind beiden total entfremdet. Da ist einerseits die streng materiell ausgerichtete, dominante Kultur der Briten, die sie für sich akzeptiert haben, in der sie aber nichts werden können. Andererseits ist da die islamische Kultur ihrer Elterngeneration, mit der sie nichts mehr anfangen können. Die Kids, die Bradford jetzt mehrfach aufgemischt haben, benutzen vielleicht noch islamische Slogans, aber sie sind keine religiösen Fanatiker und der Islam ist nicht mehr ihre Wurzel. Sie sind eher wie die Straßenkinder in Brasilien oder wie weiße Kinder, die auf der Straße leben. Was sie von anderen unterscheidet, ist, dass sie keinen kulturellen Ort haben, der ihnen gehört. Ich finde, das ist eine traurige Angelegenheit.

Warum leben Sie noch in Bradford?

Weil ich es sehr genieße, Teil einer multikulturellen Gemeinschaft zu sein. Und ich kann dort besser schreiben als zum Beispiel in London. Nicht viele Ihrer Leser werden Bradford persönlich kennen, aber es ist eine schöne Stadt, gelegen in bergiger Landschaft. In nur zwanzig Minuten ist man vom Stadtzentrum aus im Grünen. Und zum Schreiben brauche ich gelegentlich das Gefühl des offenen Raums. Außerdem ist es sehr aufregend, in Bradford zu sein, und deshalb habe ich mich entschieden zu bleiben. Ich empfinde es als schrecklich, dass durch die fehlgeleiteten Beschlüsse der durchaus wohlmeinenden Behörden und der Polizei vor Ort die Situation derart außer Kontrolle geraten ist. Ich wünschte, ich wüsste einen einfachen Weg, wie wir aus dem Dilemma kommen, aber ich weiß keinen. Und ich denke, nur wenn alle Beteiligten offen und ehrlich die Fehler eingestehen, die gemacht worden sind, kann ein Ausweg gefunden werden. Der erste Schritt zur Lösung muss sein zu sehen: Es gibt keine einfache Lösung!

Fühlen Sie eine Verantwortung, gerade als Schriftsteller über soziale Missstände zu schreiben?

Das, was man schreibt, sollte einen überraschen. Entlang der eigenen Vorurteile und Meinungen zu arbeiten ist langweilig. Weil: Man produziert so nur hohle Phrasen. Ich denke, der Autor ist ein Medium mit bestimmten Fähigkeiten, nicht mehr. Nicht der Autor packt die Welt beim Schopf, verdaut sie und bringt das zu Papier. Nein, er verleiht den Sensationen, die sich in ihm entwickeln, nur Worte.

Aber die Funktion eines Künstlers ist es auch, Aussagen über verborgene Wirklichkeiten zu machen. Über die Realitäten von Menschen, über die niemand etwas weiß. Weil sie sich nicht ausdrücken können zum Beispiel, wie im Falle der „Schwimmerin“. Nahezu jedes Interview mit einem Leistungssportler zeigt sehr eindrücklich: Worte sind ihre Sache nicht. Umso wichtiger, dass einer herkommt und sagt, was hinter der Fassade von Ruhm und Ehre, Sieg und Niederlage los ist. Nämlich im Fall meiner Schwimmerin: sexuelle Ausbeutung, Besessenheit, Geldmacherei, Wahnsinn.

Inspiriert zu diesem Roman hat mich die Beziehung zu einer Leistungssportlerin und Medaillengewinnerin. Aber sie hat nie viel von ihrem Leben erzählt. Ich wusste, dass sie einige schlimme Dinge erlebt haben musste. Ich wusste es einfach, weil ich mit ihr lebte und bestimmte Hinweise entschlüsseln konnte. Als das Buch fertig war, gab ich es ihr zu lesen und sie sagte: Das ist ja komisch. Nichts von dem, was ich dir erzählt habe, hast du benutzt. Dafür steht all das in dem Buch, was ich nie ausgesprochen habe.

So meine ich das: Ein guter Schriftsteller muss meines Erachtens in die Erfahrungswelt anderer Menschen eindringen können und sie, indem er sie zu Papier bringt, Wirklichkeit werden lassen. Genau das verstehe ich als meine Verantwortung.

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