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Vor dem neuen CoronalockdownWissenschaft im Abseits

Malte Kreutzfeldt
Kommentar von Malte Kreutzfeldt

Wenn die Politik unangenehme Entscheidungen aufschiebt, vergrößert das die Probleme. Das zeigt sich bei den Coronamaßnahmen – aber nicht nur dort.

Hauptsache, Weihnachtsgeschäft, egal wie sich das auf den Intensivstationen auswirkt Foto: Fabian Strauch/dpa

D urch die erste Phase der Coronapandemie ist Deutschland relativ gut gekommen. Neben etwas Glück und Disziplin war dabei vor allem eins entscheidend: Die Politik hat im Wesentlichen der Wissenschaft vertraut. Anders als etwa die populistischen Regierungschefs in den USA oder Großbritannien wurde vieles von dem aufgegriffen, was Virologen und Epidemiologen vorgeschlagen haben – mit dem Ergebnis, dass die erste Welle in Deutschland vergleichsweise niedrig blieb und schnell wieder abebbte.

Mittlerweile hat sich die Situation leider komplett verändert. Die zweite Welle ist nicht wirklich gebrochen worden, nach einem kurzen Plateau steigen die Infektionszahlen vielmehr wieder dramatisch an. Und die Zahl der täglichen Coronatodesfälle liegt in Deutschland mit über 400 pro Tag bezogen auf die Bevölkerungszahl nicht mehr weit von der der USA entfernt, auf deren Versagen in der ­Coronakrise wir lange mit Verachtung (für die Verantwortlichen) oder Mitleid (für die Betroffenen) geschaut haben.

Der Grund für die Katastrophe, die sich derzeit auf den Intensivstationen und in den Altenheimen abspielt, ist simpel: Anders als im Frühjahr werden die Aussagen der Wissenschaft von wichtigen politischen Akteuren derzeit nicht mehr ernst genommen – oder sogar offen angegriffen. Unter dem Eindruck, dass es im Frühjahr besser gelaufen ist als erwartet, wurde zuletzt lieber jenen geglaubt, die behaupteten, so schlimm werde es schon nicht kommen.

Manche Fehler passierten dabei mit guter Intention – etwa in den Schulen auch bei stark steigenden Fallzahlen noch am Präsenzunterricht mit kompletten Klassen festzuhalten, um keine Kinder bildungsmäßig abzuhängen. Andere waren die Folge von massivem Lobbydruck: Shoppingmalls durften im Gegensatz zu Museen offenbleiben, Heimarbeit wurde nicht verpflichtend, wo immer sie möglich ist, und Flugzeuge, Busse und Bahnen durften weiter beliebig viele Passagiere dicht an dicht transportieren – trotz klarer Warnungen aller großen Wissenschaftsvereinigungen, dass es auf diese Weise nicht gelingen würde, die Zahlen im notwendigen Maße zu drücken.

Wenn notwendige Entscheidungen aufgeschoben werden, erhöht das am Ende das menschliche Leid und die finanziellen Kosten

Und selbst jetzt, wo die Infektions- und Todeszahlen neue Rekorde erreichen, trauen sich viele Bundesländer nur zaghaft an neue Beschränkungen heran, um das Weihnachtsfest – und das Weihnachtsgeschäft – nicht zu gefährden. Dabei ist völlig klar, dass ein Lockdown umso härter und länger ausfallen muss, je länger man wartet, weil dann das Ausgangsniveau der Fallzahlen eben deutlich höher ist.

Aus diesem Grund ist es doppelt unsinnig, die unangenehmen Entscheidungen aufzuschieben. Das führt nicht nur zu mehr schwer Erkrankten und Toten, sondern ist am Ende auch für die Wirtschaft der schlechtere Weg. Alle Studien zeigen, dass harte, kurze Beschränkungen am Ende weniger Schäden anrichten als zu weiche, die lange anhalten und trotzdem nicht reichen.

Der härtere Lockdown auch für Teile der Schulen und Geschäfte, der wohl in der nächsten Woche kommen wird, hätte nicht nur besser gewirkt, wenn er schon drei Wochen eher beschlossen worden wäre, sondern er hätte dann auch deutlich kürzer ausfallen können – das zeigt die Entwicklung in Ländern wie Belgien oder Frankreich, die diesmal früher und schärfer reagiert haben als Deutschland.

Diese Kurzsichtigkeit, mit der wissenschaftliche Erkenntnisse von der Politik ignoriert werden, gibt es auch in anderen Bereichen, etwa beim Klimaschutz. Auch dort gilt: Wenn notwendige Entscheidungen aufgeschoben werden, erhöht das am Ende sowohl das menschliche Leid als auch die finanziellen Kosten. Hier wie dort muss die Politik endlich den Mut finden, wissenschaftliche Fakten ernst zu nehmen, statt sie aus Angst vor Lobbyisten, Opportunisten und Wissenschaftsleugnern so lange zu ignorieren, bis die Schäden unübersehbar sind.

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Malte Kreutzfeldt
ehemaliger Redakteur
Jahrgang 1971, war bis September 2022 Korrespondent für Wirtschaft und Umwelt im Parlamentsbüro der taz. Er hat in Göttingen und Berkeley Biologie, Politik und Englisch studiert, sich dabei umweltpolitisch und globalisierungskritisch engagiert und später bei der Hessischen/Niedersächsischen Allgemeinen in Kassel volontiert.   Für seine Aufdeckung der Rechenfehler von Lungenarzt Dr. Dieter Köhler wurde er 2019 vom Medium Magazin als Journalist des Jahres in der Kategorie Wissenschaft ausgezeichnet. Zudem erhielt er 2019 den Umwelt-Medienpreis der DUH in der Kategorie Print.
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6 Kommentare

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  • Ich würde präzisieren: wenige werden der Wissenschaft absprechen, dass sie Dinge ERKLÄREN kann.



    Aber wenn sie PROGNOSEN liefert, die düsterer sind, als das, was wir jetzt mit eigenen Augen sehen, dann schauen viele eben lieber weg, leider! "Ach, wird schon nicht so schlimm kommen!"

    Im Frühjahr war viel die Rede davon "auf Sicht" zu fahren. Das reicht aber nicht, wir müssen uns in diesem Nebel endlich trauen "nach Instrumenten" zu fliegen, nach den Instrumenten der wissenschaftlichen Prognose, die uns sichtbar machen, was das bloße Auge noch nicht sieht!

    Solange das nicht gelingt, MÜSSEN viele Menschen sterben um die Notwendigkeit in die Köpfe zu bekommen. Und sobald das nachlässt, ist schnell wieder alles vergessen. Tragisch.

  • " Hier wie dort muss die Politik endlich den Mut finden, wissenschaftliche Fakten ernst zu nehmen, statt sie aus Angst vor Lobbyisten, Opportunisten und Wissenschaftsleugnern so lange zu ignorieren, bis die Schäden unübersehbar sind."



    Es braucht keinen Mut, um Lobbyisten zu ignorieren - wohl aber die Bereitschaft, das Gemeinwohl über Eigeninteressen zu stellen.



    Und genau DA hapert es.

  • 0G
    06438 (Profil gelöscht)

    ""Der Lockdown auch für Teile der Schulen und Geschäfte, der wohl in der nächsten Woche kommen wird, hätte nicht nur besser gewirkt, wenn er schon drei Wochen eher beschlossen worden wäre, sondern er hätte dann auch kürzer ausfallen können...."

    ==

    Der Tenor des Kommentars ist richtig: Je früher ein Lockdown - desto kürzer fällt dieser aus - umso geringer der wirtschaftliche Schaden und umso wirksamer können die Infektions - und Todeszahlen herunter gebracht werden.

    Lediglich die Begründungen halten einer näheren Überprüfung nicht stand:

    Angela Merkel hatte am 28. September 2020 erklärt das zu Weihnachten die tägliche Zahl der Infektionen bei 19.200 liegen würde, "wenn es so weitergeht" wie derzeit.

    Am 29.09. lag die Zahl der täglich Infizierten bei 1800 - wobei der Zeitpunkt der Ansteckung 10 bis 14 Tage vorher - also zwischen dem 14.9. und dem 19.09 erfolgte.

    Die nach dem 29.09. erfolgte Explosion der Infektionszahlen waren also schon zu diesem Zeitpunkt nicht mehr zu verhindern.

    Der fire-breaker lockdown hätte spätestens Anfang September erfolgen müssen als Urlauber & Urlaubsrückkehrer für die Verbreitung des Virus gesorgt haben.

    Warum war das zu diesem Zeitpunkt nicht möglich?

    Weil Covididioten, Coronaleugner,



    Unbelehrbare und einzelne Landesfürsten für eine Stimmung im Land gesorgt haben die es unmöglich machten, allgemeinverständlich zu erklären, wie sich eine Exponentialfunktion auf die Verbreitung des letztendlich tödlichen Virus auswirkt.

    Wie sollte es anders sein - war der Ruf der FDP nach Verhältnismässigkeit von Lockdownmassnahmen schon mindestens Mitte September gescheitert - weil bei einem sich exponentiell verbreitenden Virus niemand mehr in der Lage ist, Infektionsketten zu erkennen - geschweige denn zu unterbrechen.

    Wenn selbst die Warnungen der Kanzlerin zu spät kamen - lag das nicht am Lobbyismus - sondern daran, das es keinen Mittelweg zwischen Covididioten und Schutz der Bevölkerung vor einer Pandemie geben kann.

  • Däh&Zisch - Mailtütenfrisch - wirft ein:

    “ Lügengeister -

    "Verachte nur Vernunft und Wissenschaft



    des Menschen allerhöchste Kraft



    Lass nur in Blend- und Zauberwerken



    Dich von dem Lügengeist bestärken,



    so hab ich Dich schon unbedingt...."



    (Mephisto)







    "Werd ich zum Augenblicke sagen: 'Verweile doch..' [....] Das sei für mich der letzte Tag"



    "Topp die Wette gilt.." "Und Schlag auf Schlag.."



    taz - 19.10.: taz.de/Forscherin-...nazahlen/!5721211/



    dortige Kommentare: TRIPLER TOBIAS: "Ich halte die Wette: Die Todeszahlen werden in absehbarer Zeit nicht auf 150-300 Menschen pro Woche steigen."



    [proWoche! - (sic!)] - KLEINER SPINNER: "Ich will Ihr Geld nicht" (Ehrenwert)







    "Wir haben es (alle) unterschätzt" - Michael Kretschmer, Sachsen - (Lügenmeister)



    Bonustrack: taz 18. Oktober 2020: "Cleveres Kanzlerinnenmanöver" taz.de/Corona-Entw...ann+merkel+corona/

    kurz - Lügengeister - aus Schland ein Meister - 😱 -

  • Etwas fehlt in dieser Betrachtung der politischen (Nicht-)Entscheidungen, die, m.E., ausschließlich vor den möglichen ökonomischen Folgen schärferer Lockdown-Varianten und schlechter Wähler*innen Stimmung getroffen werden. Sie haben weniger mit Zweifeln an den vorliegenden wissenschaftlichen Erkenntnissen und den realen Infektions- und Todeszahlen zu tun, sondern eher damit, dass wir im nächsten Jahr ein Superwahljahr haben (Bundestagswahl und in sechs Bundesländern).



    Die Infektionszahlen steigen nicht nur deshalb, weil die politischen Entscheidungen zu "lasch" waren/sind, sondern primär, weil die Wähler*innen sich davon nicht beeindrucken lassen und ihr "Ding" wie vor Corona machen. Wäre es anders, könnten die Zahlen nicht so dramatisch ansteigen.



    Kein*e Politiker*in will sich den Unmut der Wähler*innen zuziehen. Der Glühwein ist wichtig, der Umsatz im Weihnachtsgeschäft darf nicht gefährdet werden, der Skiurlaub muss möglich werden, die Buchungszahlen für die Oster- und Sommerurlaubsflüge steigen sprunghaft, weil es einen Impfstoff gibt...



    Dieser Frühbucher*innen spiegeln die gesellschaftliche Mentalität, die der Maßstab für politische Entscheidungen sind. Eine Ausgangssperre an Silvester, wie in Frankreich, ist bei uns undenkbar. Die Wähler*innen müssen sogar böllern dürfen! Wir klatschen dann im Frühjahr wieder etwas häufiger und lauter, für unsere systemrelevanten "Held*innen". Und vielleicht stellen wir ja auch noch einen Gedenkstein für die nun "Nicht-mehr-Wähler*innen" auf; rechtzeitig vor dem 26. September 2021.

  • Wenn man hier bereits Trump'sche Corona-Zahlen hat, sollten wir uns fragen, wer hierfür die Verantwortung trägt? Selbstredend muss SOFORT ein harter Lockdown her, BEVOR auch bei uns die Leichenberge ins Unermessliche steigen! Die Mathematik gibt da ganz schnell Auskunft!