Telekom-Vorstand über Bildungspolitik: "Wir brauchen eine neue Offensive"
Thomas Sattelberger, Personalvorstand der Telekom, warnt vor einer "verlorenen Generation". Er fordert Studienzugänge für Berufstätige und mehr Möglichkeiten für Bildungsverlierer.
taz: Herr Sattelberger, können Sie noch ruhig schlafen?
Thomas Sattelberger: Meistens ja.
Sie sind bei der Telekom dafür zuständig, gute Leute einzustellen. Gleichzeitig bekommen hierzulande Tausende Studierwillige keinen Studienplatz.
Die Bildungssituation im Land besorgt mich. In diesem Jahr fehlt die Finanzierung für 50.000 Studieninteressierte.
Wie kann es sein, dass ein Land erst einen doppelten Abi-Jahrgang schafft, aber nicht ausreichend Studienplätze zur Verfügung stellen kann.
Ich finde das schlimm. Jeder, der vom Studium abgeschreckt wird, ist einer zu viel. Unternehmen und Arbeitgeberverbände haben schon lange darauf hingewiesen, dass die beiden Abiturjahrgänge, die steigende Studierneigung und die gleichzeitige Abschaffung der Wehrpflicht die Hochschulen überfordern werden.
62, ist Diplom-Betriebswirt und Personalvorstand und Arbeitsdirektor der Deutschen Telekom AG. Bei der Telekom ist er seit Mai 2007; zuvor war er u. a. bei Continental und Lufthansa. Die Deutsche Telekom beschäftigt weltweit knapp 250.000 Mitarbeiter, davon rund die Hälfte in Deutschland.
Was meinen Sie damit?
Die malade Infrastruktur der Hochschulen, insbesondere die schlechte Betreuungssituation. Wie viel Pädagogik ohne Vermassung kann heute ein Student oder eine Studentin eigentlich noch erleben? Das persönliche Gespräch und das interaktive Lernen fehlen. Da begehen wir gerade schwere Fehler an den Hochschulen.
Kann sich das ein Exportland leisten?
Die Wirtschaft und die Pisastudie, das ist ein spezielles Kapitel. Jahrelang hielt sich die Industrie mit offener Kritik an den Kultusministern zurück, die das Kernproblem des Systems nichts anging: die Bildungsarmut. Pünktlich zum 10. Pisa-Geburtstag gibts nun Kritik an den die Bundesländern. Der Arbeitskreis Hochschule/Wirtschaft der Arbeitgeber- und Industrieverbänden (BDA, BDI) fordert, Ältere, Berufsqualifizierte und arbeitslose Jugendliche besser zu integrieren. Dazu gehört:
Dass Berufstätige leichter studieren können. Die Länder müssten dazu den Zugang für beruflich Qualifizierte an die Hochschulen vereinheitlichen, bislang sind nur 2 Prozent der Studienanfänger ohne Abi.
Dass Abiturienten und Gesellen gleich einzustufen sind. Im "europäischen Qualifikationsrahmen" sollen die Kultusminister die Trennung von beruflicher und allgemeiner Bildung beenden, indem Abiturienten und Gesellen gemeinsam auf Stufe 4 landen. Das tut den Kultusministern weh.
Dass drei MINT-Fächer im Abi vorgeschrieben werden. Alle Bundesländer sollen den MINT-Bereich (Mathematik - Informatik - Naturwissenschaften - Technik) in drei verpflichtende Abifächer verwandeln. Auch hier steht großer Streit mit den Kultusministern bevor. (cif)
Nein. Das ist viel zu wenig für die Wohlstandsmaschine Europas. Dass wir im OECD-Schnitt der Studienanfänger und -absolventen immer noch viel zu weit unter Durchschnitt liegen, wissen wir ja. Immerhin hat die Kanzlerin Geld bereitgestellt. Aber es kommt oft gar nicht bei den Hochschulen an. Manche Länder stecken das Unigeld des Bundes in ihre Haushaltsdefizite.
Was ist da falsch gelaufen?
In den 1960er Jahren hat Georg Picht die Bildungskatastrophe ausgerufen. Das hat das Land aufgerüttelt, die Bildungsausgaben verdoppelten sich zwischen 1970 und 1975, Dutzende Hochschulen wurden neu gegründet, der erste große Akademikerschub begann und erstmals gehörten auch in nennenswertem Umfang Arbeiterkinder dazu. Aber das reicht nicht mehr für das 21. Jahrhundert. Wir brauchen eine zweite Bildungsoffensive dieser Art - diesmal für das gesamte Bildungssystem.
Damals gab es eine Picht-Krise - und einen Kanzler Brandt, der sagte: "Öffnet die Hochschulen!" Heute haben wir die Pisakrise und eine Kanzlerin Merkel, die die Bildungsrepublik ausruft. Nur sagen die Länder: "Nein, wir sind zuständig!"
Die Länder in der deutschen Bildungspolitik, das kommt mir manchmal vor, als wollte man streunende Katzen zähmen. Der Bund darf seine Hände nicht aus der Bildung herauslassen!
Was muss passieren?
Ich glaube, dass wir mit der Föderalismusreform bei der Bildungspolitik eine große Sünde begangen haben. Das sogenannte Kooperationsverbot muss weg.
Sie meinen, dass der Bund kein Geld in Schulen geben darf.
Ja, aber selbst wenn der Bund wieder mit Mitteln initiieren und stimulieren darf, reicht das nicht aus. Wir brauchen viel weiter gehende Standards.
Wofür?
Zum Beispiel beim Öffnen der Hochschulen für beruflich Qualifizierte. In diesem Talentsegment steckt so viel Wissen und Aufstiegswille, dass es eine Sünde ist, dies von den Unis fernzuhalten. Aber genau das geschieht, weil es 16 unterschiedliche Regelungen gibt. Selbst die Hochschulzulassung von Meistern und Technikern ist völlig zersplittert geregelt. Deswegen haben wir gerade knappe 1,9 Prozent beruflich Qualifizierte ohne Abitur unter den Studenten. Wären es mehr, könnten wir die akademische Fachkräftelücke besser schließen.
Ist diese Lücke eine Gefahr für die Deutsche Telekom?
Wir in der Telekom haben schon vor Jahren die Weichen gestellt - bevor uns das Wasser bis zum Hals stehen konnte. Wir gewinnen über unseren Ausbildungspakt jährlich Tausende junge Leute fürs Unternehmen. Zudem haben wir die Zahl unserer dualen Studienplätze von 300 auf 1.200 erhöht.
Das sind Leute, denen Sie die Studienkosten zur Hälfte bezahlen.
Ja, eine akademische Talentquelle ohnegleichen, auf den Feldern Wirtschaftsinformatik, Telekommunikationsinformatik und Betriebswirtschaft.
Warum ist das so wichtig für Sie?
Wir haben als Telekommunikationsunternehmen einen gewaltigen Skillshift zu organisieren.
Was bedeutet denn Skillshift?
Qualifikationen, die früher notwendig waren, werden jetzt technologisch überflüssig.
Das Fräulein vom Amt ist umgezogen.
Längst. Und der Kupfermonteur zum Beispiel ist eine aussterbende Spezies. Die Zukunft gehört dem System-Monteur mit Beratungs- und Vertriebskompetenz. Aber es gibt auch Fähigkeiten, die kann man nicht herbeiqualifizieren. Sie sind so andersartig, dass ich sie mir von außen einkaufen muss.
Wo liegt das Durchschnittsalter in Ihrem Unternehmen?
Bei 43,8 Jahren, damit sind wir 1,5 Jahre über dem Durchschnitt der erwerbstätigen Bevölkerung.
Wie alt sind die Apple-Informatiker?
Wahrscheinlich zehn bis fünfzehn Jahre jünger, ich weiß es nicht genau. Aber in ausgewählten Innovationsbereichen liegen auch wir auf diesem Niveau. Sie können sich ein Unternehmen nicht schnitzen.
In Deggendorf werden bulgarische Azubis importiert - weil es nicht genug ausbildungsfähige Hauptschüler gibt. Wer trägt dafür die Verantwortung?
Wenn wir von Versagen sprechen, dann dem der Schule, die die Ausbildungsbefähigung nicht schafft, aber auch dem der Wirtschaft. Es gelingt uns noch nicht, kluge Brücken zu bauen für Menschen, die zwar nicht formal ausbildungsbefähigt sind, die aber trotzdem ausgeprägte Stärken und Talente besitzen. Wir haben in Deutschland fast 300.000 Jugendarbeitslose und 350.000 in der Warteschleife des Übergangssystems. Ich bin überzeugt, dass wir die Hälfte von ihnen in eine qualifizierende Ausbildung kriegen können.
Was macht Sie so hoffnungsvoll?
Wir haben in einem ersten Versuch knapp 70 dieser Jugendlichen eingestellt. Ich habe das mit meinen Ausbildern nachdrücklich diskutiert - denn sie hätten diese Leute mit normalen Auswahlverfahren wohl kaum in die Betriebe geholt. Wir hätten die Stärken und Begabungen mit unseren Auswahlverfahren auch gar nicht erst herausgefunden. Die Job-Center und Arbeitsgemeinschaften haben uns dabei geholfen. Diese Jugendlichen sind keine "hoffnungslosen Fälle", bei denen ist irgendwas schiefgelaufen, was ihnen den Schneid abgekauft hat. Und jeder von denen hat eine bestimmte Stärke und einen Willen.
70 sind nicht gerade viel für ein Unternehmen mit 250.000 Mitarbeitern.
Ja, das ist noch keine kritische Masse. Aber erstens haben wir die Zahl auf 150 ausgeweitet. Und zweitens muss auch der Gesetzgeber mithelfen.
Wie das?
Es ist nicht zielführend, wenn Erfolgsprämien für diese Jugendlichen auf die Sozialleistungen angerechnet werden müssen - also ihnen gar nicht zugute kommen.
Sie fördern in der Deutschen Telekom ältere Arbeitnehmer, abgehängte Jugendliche und Schwerbehinderte. Warum machen Sie das?
Weil ich überzeugt bin, dass ein Unternehmen die Vielfalt der Gesellschaft widerspiegeln muss. Und weil wir uns der sozialen gesellschaftlichen Verpflichtungen nicht entledigen können.
Haben Sie denn selbst Ausgrenzung erlebt?
Nein, das nicht. Aber meine Eltern haben alles getan, damit ich aus den gegebenen Begrenzungen herauskam und mir eine Welt erobern konnte, die größer und weiter war.
Was waren Ihre Eltern von Beruf?
Meine Mutter war Lehrerin für Hauswirtschaft und Hausarbeit, mein Vater begann als einfacher Beamter. Er konnte nicht studieren, das hat ihn ein Leben lang gequält.
Hat er mit Ihnen darüber gesprochen?
Ja, oft. Ich komme also aus kleinbürgerlichen Verhältnissen - und meine Eltern haben mich mit 16 ein Jahr in die USA geschickt. Als ich zurück kam, sagte meine Mutter: "Thomas, du bist ein anderer als der, der weggefahren ist."
Was haben Sie in den USA erlebt?
Ich kam aus beengten Verhältnissen direkt in die Flowerpower-Bewegung und die Antivietnamkriegsdemos der frühen US-amerikanischen 68er. Ich bin als 16-jähriger mit alternativen Lebensformen und dem Kampf gegen Krieg und Rassendiskriminierung konfrontiert worden. Ich habe diese Eindrücke intensiv aufgesogen.
Was ist davon geblieben?
Dass Fairness und Gerechtigkeit wichtig sind. Auch und gerade in der Wirtschaft. Ich bin im Kern jemand, der sagt, wir müssen auf Stärken und auf Lebensoptimismus setzen. Egal, woher jemand kommt.
Was sagen Sie denen, die heute als Jugendliche oder Abiturienten abgewiesen werden?
Gebt nicht auf! Es gibt mehr und mehr Menschen, die mithelfen, dass ihr eine zweite und dritte Chance bekommt. Ich würde es für schädlich und schändlich halten, wenn wir in unserem Land zu verlorenen Generationen kämen.
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