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Simon Rattle dirigiert Leoš JanáčekDer Spießer im Weltall

Leoš Janáčeks „Die Ausflüge des Herrn Brouček“ ist an der Staatsoper Berlin zu sehen. Robert Carsen inszeniert die satirische Oper herausragend.

Robert Carsens „Brouček“ spielt in den späten sechziger Jahren Foto: Arno Declair

Eine Oper braucht immer einen Text. Das kann zum Problem werden, wenn Komponist und Librettist sehr unterschiedliche Vorstellungen vom Inhalt des Projekts haben. Im Falle von Leoš Janáčeks Oper „Die Ausflüge des Herrn Brouček“ müssen die künstlerischen Positionen extrem weit auseinander gelegen haben; denn im Laufe von neun Jahren Arbeit an dem Werk verschliss der Komponist zahlreiche Autoren und schrieb einen Großteil des Librettos schließlich selbst, nachdem er, sehr entgegen den eigenen Prinzipien, weite Strecken der Musik schon komponiert hatte, ohne dass ein Text vorgelegen hätte.

Svatopluk Čech, der Autor der literarischen Vorlage, war noch nicht lange verstorben, als Janáček sein Opernprojekt begann. Es wird vor allem Loyalität dem toten Kollegen gegenüber gewesen sein, die bewirkte, dass die zeitweiligen Librettisten sich weigerten, die vom Komponisten gewollten Abweichungen von der ursprünglichen Erzählung mitzutragen.

Ihr satirischer Kern blieb von den Modifikationen der Oper aber unberührt. In der Figur des Herrn Brouček (zu Deutsch „Käferchen“), eines biederen Mietshausbesitzers, nehmen Čech sowie Janáček den tschechischen Spießbürger aufs Korn. „Ich wollte, dass uns ein solcher Mensch anekelt, dass wir ihn bei einer Begegnung vernichten, ersticken – aber in erster Linie in uns selbst“, schrieb der Komponist.

Seine Oper enthält zwei voneinander unabhängige Geschichten innerhalb derselben Rahmenhandlung: An zwei aufeinanderfolgenden Kneipenabenden säuft Brouček sich derart zu, dass er sich daraufhin in einer intensiv erlebten Phantasmagorie wiederfindet: Zunächst in einer surrealistischen Mondlandschaft, bevölkert von vegetarisch lebenden Mondmenschen, deren Dasein von einer überkandidelten Ästhetik bestimmt wird (hierbei lebte Janáček eine persönliche künstlerische Feindschaft aus). Am zweiten Abend findet Brouček sich im fünfzehnten Jahrhundert, inmitten der Hussitenkriege, wieder.

Satire vergangener Jahrhunderte funktioniert auch heute

Ja, was geht uns das an? Dass an die Satire vergangener Jahrhunderte gar nicht so leicht anzudocken ist, muss der Grund dafür sein, dass der „Brouček“ sehr viel seltener gegeben wird als Janáčeks andere Opern (denn an der Musik kann es nicht liegen).

Angesichts der nun an der Staatsoper Berlin zu erlebenden Produktion scheinen solche Bedenken aber fast lächerlich, denn der kanadische Regisseur Robert Carsen zeigt, wie dieses Andocken ganz hervorragend gelingen kann – mithilfe visueller Opulenz, die bis in kleinste Details gewitzt, überraschend und durchdacht ist (Bühne: Radu Boruzescu, Kostüme: Annemarie Woods), und durch einen behutsamen, beziehungsreichen Transfer des politisch-satirischen Gehalts in Sphären, die uns deutlich näher sind als die Religionskriege des Mittelalters.

Die späten sechziger Jahre sind die historische Folie, die Carsen seinem „Brouček“ zugrunde legt: Schicksalsjahre für die damalige Tschechoslowakei, bewegte Zeiten auch für den Rest der Welt. In der Mondwelt agiert ein hinreißend bizarres Ballett elfenhafter Außerirdischer und eine selbstverliebte Hippie-Gesellschaft, in die Brouček passt wie die Faust aufs Auge.

Der surrealistische Space-Zirkus wird im zweiten Teil der Oper von blutigem Ernst abgelöst: Carsen hat die Hussitenwelt der Vorlage in die Zeit der Niederschlagung des Prager Frühlings überführt. Ein gigantisches Fernsehbild in Bühnenraumgröße zeigt uns Videos zum Zeitgeschehen, sowjetische Panzer auf den Straßen von Prag, demonstrierende Zivilisten, die Kneipenszenerie der Bühne ist mit Aufschriften in mehreren Sprachen versehen, darunter auf Russisch: „Idite domoj – Geht nach Hause“.

Die Oper

„Die Ausflüge des Herrn Brouček“ läuft wieder am 20., 27. und 29. März sowie am 3. April an der Staatsoper Berlin

Die beklemmende Ahnung stellt sich ein, dass Geschichte sich ständig wiederholt. Als der Bühnenfernseher Szenen der Trauerfeier für den Studenten Jan Palach zeigt, der sich aus Protest gegen die Besatzung verbrannte, schweigt minutenlang auch das Orchester.

Simon Rattle und die Staatskapelle liefern ansonsten einen herrlichen Soundtrack. Fast scheint es, als öffne die Musik neben der Bühne einen weiteren imaginären Raum. Es ist eine enorme Bandbreite musikalischer Gestik, die Janáček in dieser eigenartigsten seiner Opern auslotete – von volksliedhafter, romantisierender Motivik in der ersten Kneipenszene bis hin zur fieberhaften, in minimalistisch variierten Gesten das Geschehen antreibenden Revolutionsmusik.

Und wo immer die Partitur eine Gelegenheit zu satirischer Überhöhung anbietet, ist Rattle ganz vorne mit dabei. Die Singenden, allen voran Peter Hoare als Brouček und Lucy Crowe in allen weiblichen Hauptrollen, bewältigen ihre oft absurd hoch gelegten Partien bravourös und zeigen gleichzeitig eine Beweglichkeit und Spielfreude, wie sie auf Opernbühnen nur sehr selten zu erleben ist.

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