Protestbewegung in den USA wird größer: Nach dem Vorbild der Schildkröte
Jetzt ist auch in Washington ein Platz besetzt. Die "Occupy Wall Street"-Aktivisten und die Antikriegsbewegung reichen sich die Hände.
WASHINGTON taz | Die Schildkröte ist das Vorbild. "Seid wie sie!", ruft der beinahe 80-jährige afroamerikanische Bürgerrechtler Dick Gregory in das Mikrofon: "Eine harte Schale, ein weiches Inneres; mit dem Mut, den Hals hinauszustrecken." Die Menge jubelt. Mehrere Tausend Menschen stehen auf der Freedom Plaza im Herzen von Washington.
Sie kommen aus allen Teilen der USA. Manche haben schon vor Monaten das schriftliche Gelöbnis abgelegt, dass sie die "Maschine stoppen" werden, falls an diesem Tag immer noch US-Soldaten, -Söldner und -Militärunternehmer in Afghanistan sein sollten. Mit gewaltfreiem Widerstand.
Als eine kleine Gruppe von Antimilitaristen im vergangenen Frühling beginnt, diese Besetzung zu planen, ahnt niemand, dass es einen "amerikanischen Herbst" geben würde. Die Inspiration kommt aus Kairo und Tunis sowie aus Madison, der Hauptstadt des nördlichen US-Bundesstaats Wisconsin, wo eine soziale Protestbewegung tobt. Die Initiative Occupy Wall Street - und Hunderte andere Aktionen gegen das "Amerika der Konzerne" - gibt es damals noch nicht.
An diesem Donnerstag im frühen Herbst steht Ellen Davidson überwältigt in der Menschenmenge in Washington. Die New Yorkerin ist eine Frau der ersten Stunde. Sie hat in den vergangenen Monaten unter anderem die "15 zentralen Themen" und das Logo der Bewegung miterarbeitet. In Washington geht es ums Ganze. Die Themen der Besetzer reichen von der Ablehnung der Macht der Unternehmen über Militarismus und die Forderung nach Einhaltung der Menschenrechte und Arbeiterrechte bis hin zu dem Entwurf einer anderen Bildungs-, Gesundheits- und Umweltpolitik.
Die Organisatoren wollten von Anfang an nur den Anstoß geben. "Alle Entscheidungen liegen bei den Besetzern", sagt Ellen Davidson. Doch dass die Besetzer so schnell die Initiative ergreifen würden, hätte selbst sie nicht gedacht. Schon zu Beginn der Besetzung - und vor der ersten Vollversammlung - ergreift ein junger Afroamerikaner auf den Stufen der Nationalen Handelskammer das Mikrofon. Er verlangt "anständige Jobs". Eine Frau rechnet vor, wie viele Arbeitsplätze in Umwelt- und Gesundheitsindustrie mit den Kriegsmilliarden geschaffen werden könnten.
US-Medien sind nicht so viele da
Der "amerikanische Herbst" öffnet den Weg für neue Initiativen. Zwar fehlen auch zum Auftakt der Besetzung in Washington viele große US-amerikanische Medien. Doch die Journalisten aus allen Teilen der Welt sind anwesend. Und den Rest erledigen die Besetzer selbst. Als Erstes haben sie einen Medientisch auf dem Freedom Plaza aufgestellt (www.october2011.org). Von dort beginnen sie unmittelbar mit der Übertragung im Internet per Livestream.
Sarah Manski, eine junge Grüne aus Wisconsin, die schon dort im vergangenen Winter auf der Straße war, spricht von "Revolution". Sie sagt: "Wir haben nur die Alternative, weiterzumachen wie bisher oder das System zu ändern." Dafür, dass sich der Wille zur Systemveränderung gerade in diesem Moment quer durch die USA Ausdruck verschafft, hat der Autor und Blogger David Swanson - auch er ein langjähriger Aktivist - zwei Erklärungen: Die massive Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage trifft immer mehr Menschen empfindlich. Und die halbe Strecke zwischen zwei Präsidentschaftswahlen. "Das ist der optimale Moment für Proteste."
Auf der ersten Vollversammlung auf der Freedom Plaza in Washington diskutieren mehrere Hundert Leute. Die meisten wollen auf dem Platz und den umliegenden Trottoirs übernachten, obwohl die Polizei das ebenso verbietet wie das Aufstellen von Zelten.
Die 48-jährige Immobilienmaklerin Leslie kommt aus Pasadena. Im heimischen Kalifornien hat sie mehrfach an Aktionen gegen Praktiken der Banken teilgenommen. Man protestierte - im Inneren einer Filiale - mit Transparenten gegen die Gier dieser Bank und überreichte dem Manager symbolisch einen Steuerbescheid. Finanziell schlägt Leslie sich mit Erspartem durch. Für ihren Job gibt es wegen der Wohnungskrise wenig Bedarf.
Präsident Obama hat an diesem Donnerstag erstmals "Verständnis" für die "weit verbreitete Frustration durch das das Finanzsystem" gezeigt - für manche Besetzer ein erster Erfolg. Andere zucken nur mit den Schultern. Für die einen ist Obama trotz aller Enttäuschungen "der beste Präsident, den wir kriegen können". Die anderen glauben nicht, dass Präsidenten in den USA die Politik bestimmen.
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