Polizei-Deal mit der Mafia: Totò Riina und das Mafia-Archiv
20 Jahre nach der Verhaftung eines Cosa-Nostra-Chefs klärt ein Insider auf, wie einst Unterlagen verschwanden: Die Polizei habe sie beiseite geschafft.
ROM taz | Als am 15. Januar 1993 in Palermo der „Boss der Bosse“ Totò Riina verhaftet wurde, feierte Italien einen der größten Siege des Staates über die Mafia. 20 Jahre danach legen sensationelle Enthüllungen nahe, dass der Sieg nichts anderes war als ein Akt der Kapitulation vor dem organisierten Verbrechen.
Die italienische Tageszeitung La Repubblica veröffentlichte am Freitag ausführliche Auszüge aus einem anonymen Schreiben an die Staatsanwaltschaft Palermo, das zahlreiche Indizien für einen brisanten Verdacht liefert: Die Cosa Nostra selbst schloss damals einen Pakt mit dem Staat und verkaufte Totò Riina an die Fahnder, um ihre kriminellen Geschäfte unbehelligt fortzusetzen.
Die Polizisten, so behauptet der anonyme Autor, dankten es auf ihre Weise: Sie ließen das komplette in Riinas Villa gefundene Archiv verschwinden und entzogen es so dem Zugriff der Staatsanwaltschaft.
Totò Riina war der wohl blutrünstigste Boss in der Geschichte der Cosa Nostra – und er war der Boss, der in den frühen 1990er Jahren die Konfrontation mit dem Staat auf Sizilien zum offenen Krieg eskalieren ließ, wobei Politiker und Staatsanwälte mit spektakulären Attentaten aus dem Weg geräumt wurden.
1.000 Tote in Palermo
Zunächst hatte sich Riina an der Spitze seines Clans der „Corleonesi“ den Weg an die Spitze der Mafia frei geschossen; an die tausend Tote allein in Palermo kostete in den 80er Jahren sein Feldzug gegen die rivalisierenden Familien. Riina zeigte am wenigsten Scheu davor, auch Richter, Polizisten und Politiker exekutieren zu lassen.
Doch den wachsenden Fahndungsdruck konnte die Mafia damit nicht aufhalten. Als im Januar 1992 Dutzende Bosse zu lebenslanger Haft verurteilt wurden, schlug Riina zurück. Erst wurde der mächtigste Politiker der Insel, der mafianahe Salvo Lima, erschossen, weil er das Urteil nicht verhindert hatte.
Italienische Mafia-Jäger haben in der Nacht zum Freitag einen führenden Boss der neapolitanischen Camorra hinter Schloss und Riegel gebracht. Sie nahmen den flüchtigen Antonio Mennetta (28) in einer Villa in Scafati bei Salerno fest.
Mennetta gilt als Boss des mächtigen „Girati“-Clans und wurde seit September wegen Mordes und Zugehörigkeit zu einer kriminellen Vereinigung gesucht, wie die Nachrichtenagentur Ansa berichtete.
Er soll einer der Drahtzieher einer Blutfehde unter Mafia-Clans sein. Das mobile Einsatzkommando der kampanischen Hauptstadt Neapel fand in der Villa ein ausgeklügeltes Video-Sicherheitssystem vor, das den Mafioso warnen sollte. (dpa)
Mafia-Krieg gegen den Staat
Dann zündete Cosa Nostra im Mai und im Juli 1992 zwei Bomben, die die beiden härtesten Mafiajäger, die Staatsanwälte Giovanni Falcone und Paolo Borsellino samt ihrem Begleitschutz töteten. Allzu offenkundig war Riinas Absicht, den Staat in die Knie zu zwingen.
Nur sechs Monate später wurde Riina mitten in Palermo gefasst. Schon am gleichen Tag aber begann jenes Mysterium, das jetzt in dem anonymen zwölfseitigen Schreiben an die Staatsanwaltschaft Palermo seziert wird: Statt Riinas Villa sofort im Beisein der Staatsanwälte zu durchsuchen, baten sich die Ermittler einer Spezialeinheit der Carabinieri Zeit aus.
Sie wollten das Anwesen überwachen, um womöglich andere Mafiosi zu stellen, erklärten sie der Staatsanwaltschaft. Doch schon nach wenigen Stunden wurde diese Maßnahme eingestellt. Erst 19 Tage später erhielten die Staatsanwälte Kenntnis davon; als sie endlich anrückten, war Riinas Villa komplett leer geräumt und sogar frisch gestrichen.
Polizei ließ Mafia-Unterlagen verschwinden
Bloß ein „Missverständnis“, erklärten die Carabinieri damals. Jetzt behauptet der Anonymus, der bestens über die damals eingesetzten Fahnder informiert ist, dass die Ermittler selbst das komplette Archiv Riinas erst in eine Carabinierikaserne im Zentrum Palermos brachten und dann „beiseite geschafft“ hätten.
In den Unterlagen nämlich fänden sich klare Beweise für den steten Kontakt zwischen Mafia und Politik – und eben auch für Verhandlungen zwischen Politikern und Mafiosi, um einen Kompromiss mit Riina zu erreichen und seinen blutigen Feldzug zu stoppen.
Jener Kompromiss wurde dann nach Meinung des Autors über Riinas Kopf hinweg mit seinem Nachfolger Bernardo Provenzano erzielt. Er halte bis heute.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Anbrechender Wahlkampf
Eine Extraportion demokratischer Optimismus, bitte!
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei