Neue Zensurwelle in der Türkei: „Auf Kriegsfuß mit der Pressefreiheit“
Türkische Behörden schließen zwölf Fernseh- und elf Radiosender. JournalistInnengewerkschaften fordern Konsequenzen von der Bundesregierung.
Am Donnerstag hatten die türkischen Behörden zwölf Fernseh- und elf Radiosender wegen angeblicher Gefährdung der nationalen Sicherheit die Sendeerlaubnis entzogen. Sie seien „wegen Beihilfe zum Terrorismus“ geschlossen worden, sagte ein Sprecher des Rundfunk-und Fernsehrates RTÜK am Freitag.
Der RTÜK beruft sich bei den jüngsten Maßnahmen auf ein nach dem Putschversuch von Mitte Juli erlassenes Notstandsdekret. Das Dekret besagt, dass Medien und Verlage, die „die nationale Sicherheit gefährden“, ohne Gerichtsbeschluss von der Regierung geschlossen werden können.
Betroffen sind überwiegend pro-kurdische Sender, darunter auch der Kinderkanal „Zarok TV“, der unter anderem Zeichentrickserien wie „Die Biene Maja“ und „Die Schlümpfe“ ins Kurdische übersetzt und ausstrahlte. Auf der Liste steht aber auch der linke regierungskritische Sender Hayatın Sesi, der während der Gezi-Proteste im Sommer 2013 unter dem Namen Hayat TV Bekanntheit erlangte. Mit dem umstrittenen Notstandsdekret waren bereits im Juli drei Nachrichtenagenturen, 16 Fernsehsender, 23 Rundfunkstationen, 15 Magazine und 45 Zeitungen wegen angeblicher Gülen-Nähe geschlossen worden.
„Es wird immer klarer, dass Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan auf Kriegsfuß mit der Pressefreiheit stehe“, sagte der DJV-Vorsitzende Frank Überall, der noch Mitte Juli den jetzt verbotenen Fernsehsender Hayatın Sesi in Istanbul besucht hatte. Erdoğan missbrauche seine besonderen Befugnisse aufgrund der Notstandsgesetze nach dem Militärputsch, um kritische Meinungen auszublenden. „Wir werden Zeugen einer Politik der Unterdrückung von Grundrechten, um jegliche Kritik an der Regierung zum Schweigen zu bringen“, sagte Überall der taz.
Kritischer Journalismus wird zum Schweigen gebracht
„Einmal mehr schränkt Erdoğan die Presse- und Meinungsfreiheit in seinem Land ein, die wesentliche Grundlage für eine freie Gesellschaft ist“, sagte der dju-Vorsitzende Ulrich Janßen. Das Vorgehen des türkischen Staatspräsidenten habe ganz offensichtlich das Ziel, kritischen Journalismus zu beseitigen. „Jeder einzelne Übergriff soll nicht nur die jeweils betroffenen Kolleginnen und Kollegen mundtot machen, sondern alle kritischen Stimmen einschüchtern“, sagte Janßen.
Die Demonstrationen für die Pressefreiheit in der Türkei finden am Samstag, 1. Oktober, in folgenden Städten statt:
Berlin, 14.00 Uhr, Potsdamer Platz
Köln, 14.00 Uhr, Heumarkt
Stuttgart, 14.00 Uhr, Rothebühlplatz
Frankfurt/Main, 15.00 Uhr, Hauptwache
Hamburg-Altona, 15.00 Uhr, Spritzenplatz
Nachdem der Satelliten- und Kabelnetzbetreiber Türksat bereits am Donnerstag die Ausstrahlung der betroffenen Stationen auf Anordnung von RTÜK gestoppt hatte, sind inzwischen von mehreren auch deren Internetseiten in der Türkei nicht mehr abrufbar. Noch am Donnerstag wurden zwei der betroffenen zwölf TV-Sender ganz verboten. Die Reporterin Hülya Emec von Van TV sagte der dpa am Freitag, der Firmenbesitz des Senders sei von den Behörden beschlagnahmt worden. Alle 50 Angestellten von Van TV seien über Nacht arbeitslos geworden.
„Die deutsche Bundesregierung und die Europäische Union müssen ihren Ton gegenüber der Türkei spätestens jetzt verschärfen“, forderte DJV-Chef Überall. „So sehr das Land als Partner in der internationalen Politik gebraucht wird, darf man nicht vergessen, Grundrechte massiv einzufordern.“ Auch die dju-Bundesgeschäftsführerin Cornelia Haß forderte klare Worte. „Wir erwarten von der Bundesregierung, dass sie den unverzichtbaren Wert der Pressefreiheit in der Türkei endlich offen anspricht und aus dem offenbaren Demokratiedefizit Konsequenzen zieht“, sagte sie der taz.
Für diesen Samstag sind in mehreren deutschen Großstädten Solidaritätsdemonstrationen gegen die Schließung der türkischen und kurdischen Sender geplant. Die beiden JournalistInnengewerkschaften rufen zur Teilnahme auf. „Wir Journalistinnen und Journalisten sind aufgerufen, Flagge zu zeigen“, sagte Frank Überall, der selbst auf der Kölner Kundgebung sprechen will.
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