Pädagoge über Grüne-Pädodebatte: „Das ist Charakterschwäche“
Der Pädagoge Manfred Kappeler wirft den Grünen vor, in der Pädophilie-Debatte herumzulavieren. Sie sollten jetzt ein Angebot machen.
taz: Herr Kappeler, Sie haben sich in den vergangenen Jahren mit der Vertuschung sexueller Gewalt in pädagogischen Einrichtungen auseinandergesetzt. Was halten Sie von der Art, wie die Grünen mit den Pädophilie-Vorwürfen umgehen?
Manfred Kappeler: Das Herumlavieren von Grünen-Politikern wie Daniel Cohn-Bendit oder Volker Beck finde ich enttäuschend. Es geht nicht darum, sich herauszureden, sondern Dinge genau zu benennen, die Fakten und die zeitgeschichtliche Lage.
Was hätten Sie von den Grünen erwartet?
Die Partei hätte schon vor einigen Jahren offensiv Stellung beziehen müssen, als man über sexuelle Gewalt am katholischen Canisius-Kolleg in Berlin oder der reformpädagogischen Odenwaldschule redete. Sie hätte von sich aus offenlegen sollen, wie es zum Beispiel zu der Bundesarbeitsgemeinschaft Schwule, Päderasten und Transsexuelle kam.
Diese Chance hat die Partei verpasst. Was nun?
Zumindest müssten Cohn-Bendit und Beck ihre Äußerungen von damals in den zeitgeschichtlichen Kontext stellen und klar sagen: Wir haben sexuelle Praktiken von Erwachsenen an Kindern damals falsch gesehen und beurteilt. Im Kampf gegen die Unterdrückung der Sexualität haben wir Grenzen, die uns heute selbstverständlich sind, nicht gezogen. Damit haben wir die Falschen ermutigt.
73 Jahre, ist emeritierter Professor für Sozialpädagogik und Autor des Buches „Anvertraut und ausgeliefert. Sexuelle Gewalt in pädagogischen Einrichtungen“ (2011).
Warum bleiben klare Worte aus?
Man könnte sagen: Das ist Charakterschwäche. Aber die Auseinandersetzung mit den eigenen Fehlern fällt ja den meisten Menschen schwer. Wir neigen dazu, eigene Irrwege zu vernebeln. Das gilt auch für eine Partei, die im Wahlkampf um ihre öffentliche Reputation bangt.
Glauben Sie, dass die Wähler schonungslose Offenheit honorieren?
Die Grünen könnten doch mutig klarmachen: Sie waren immerhin die einzige Organisation, in der es je eine offene Auseinandersetzung mit dem Thema gab.
Und was war daran gut?
Im Rest der Gesellschaft griffen Mechanismen wie Vertuschen, Verschweigen, Verschieben. Dabei gab es sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen überall: in kirchlichen, staatlichen und anderen pädagogischen Einrichtungen. Die Grünen könnten übrigens auch mit Selbstbewusstsein darauf hinweisen, dass die ersten Projekte zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexueller Gewalt im linksalternativen Milieu entstanden.
Darunter waren wichtige Beratungsstellen wie Wildwasser oder Beratungsstellen für Stricher. Konservative Gruppen und Organisationen, die jetzt mit dem Finger auf die Grünen zeigen, haben in dieser Zeit außer Vertuschen und Verschweigen nichts auf die Reihe gebracht.
Der Grünen-Spitzenkandidat Jürgen Trittin lehnt eine Anlaufstelle der Grünen für Opfer sexueller Gewalt ab – weil bisher nur Einzelfälle bekannt seien und man die nicht den Parteistrukturen zuordnen könne. Zu Recht?
Nein, ich sehe das anders. Die Grünen haben eine Verantwortung für ihre Mitglieder und auch für andere Menschen aus ihrem linksalternativen Umfeld. Sie waren ja damals nicht nur eine Partei, sondern eine Bewegung, die die verschiedensten Milieus umfasste. Sie sollten deshalb klar sagen: Es ist wahrscheinlich, dass auch in unseren Zusammenhängen Kinder und Jugendliche von Erwachsenen sexuelle Gewalt erfahren haben.
Was halten Sie von einer eigenen Anlaufstelle für Opfer?
Eine Telefonhotline wäre die richtige Vorgehensweise, um Betroffene zu ermutigen, sich zu melden. Bei den Grünen gibt es ja sehr viele Pädagoginnen und Pädagogen, auch 35-Jährige, die damals noch nicht geboren waren. Wenn es aus diesen Reihen eine ausgestreckte Hand für die Opfer gäbe, das wäre doch mal was!
Bislang haben sich kaum Opfer aus dem linksalternativen Milieu zu Wort gemeldet. Ist es für sie besonders schwierig, ihre Geschichte öffentlich zu machen?
Zweifellos. Für Odenwaldschüler war es ungleich schwerer zu reden als etwa für Heimkinder. Das Paradoxe ist: Dort, wo eine nahe Bindung, eine tiefe Zuneigung verraten wurde, sind die Traumata tiefer. Diese Opfer können nicht so einfach sagen: Das Schwein hat mich brutal misshandelt – und sich mit dieser Distanzierung emotional etwas schützen.
Kann man es Opfern aus dem grün-alternativen Milieu denn erleichtern, ihr Gewalterlebnis auch zu offenbaren?
Ja, aber nur, in dem man selbst sagt: Wir haben Schuld auf uns geladen und wollen mit euch reden, sofern ihr wollt und könnt. Man muss ein Angebot machen, das ist eine Bringschuld.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen