Medizinische Folgen der Katastrophe: Keine Entwarnung in Fukushima
Atomkritische Ärzte sehen schwere Versäumnisse in der Erfassung von Gesundheitsschäden medizinischen Versorgung nach Fukushima.
BERLIN taz | Die Bevölkerung rund um das havarierte japanische Atomkraftwerk Fukushima Daiichi ist nach Ansicht der atomkritischen „Ärzte für die Verhinderung des Atomkriegs“ (IPPNW) deutlich höher gefährdet als allgemein angenommen.
„Wir können überhaupt keine Entwarnung geben“, sagte am Freitag Angelika Claußen von der Organisation nach einer Reise durch Japan. Die Menschen würden mit ihren medizinischen und sozialen Problemen oft allein gelassen und deutlich überhöhten Strahlendosen ausgesetzt, sagte sie. Die Evakuierungszone müsse deutlich erweitert werden.
Damit widersprechen die IPPNW, die für ihr Engagement 1985 den Friedensnobelpreis erhielten, den offiziellen Stellen: Eine Studie der Weltgesundheitsorganisation WHO hatte im Frühjahr Entwarnung gegeben, die UN-Organisation UNSCEAR erhebt noch Daten und die japanischen Behörden halten sich an die Ergebnisse der offiziellen Messstellen – in deren Umgebung aber die Belastung deutlich höher liegen kann, berichtete Claußen.
„Wir haben ein Krankenhaus in Fukushima City besucht, an dem 18 Millisievert im Jahr gemessen werden.“ Zum Vergleich: 20 Millisievert sind der Grenzwert für AKW-Arbeiter, vor dem Unglück lag in Japan die Grenze für die Bevölkerung bei einem Millisievert.
Schwere Vorwürfe an Behörden
Dörte Siedentopf, ebenfalls Mitglied der 30köpfigen internationalen IPPNW-Delegation in Japan, kritisierte den Umgang der japanischen Medizin mit den Fukushima-Opfern. „Eigentlich sollten alle 380.000 Kinder und Jugendlichen der Region auf Probleme an der Schilddrüse untersucht werden, doch bisher wurden erst 40.000 getestet.“ Bei 35 Prozent dieser Kinder habe es Zysten oder Knoten an der Schilddrüse gegeben. Das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) dagegen wertet diese Berichte als nicht repräsentativ.
Siedentopf erhob schwere Vorwürfe an die Adresse der japanischen Behörden: Die Jodvorräte zum Schutz der Schilddrüsen seien nach der Katastrophe nicht an die Bevölkerung ausgegeben worden. „Die Menschen klagen über Hautveränderungen, Haarausfall, Durchfall, Nasenbluten oder Husten“. Wo der verstrahlte Müll aus den zerstörten Gebieten rund um Fukushima verbrannt werde, steige die Belastung mit Radioaktivität „auf das Zehnfache des normalen Wertes“.
Eine weitere Kritik: Die Behörden erhöben nicht systematisch die relevanten Daten nach dem Unfall. „Man kann aus den Erfahrungen nach Tschernobyl viel lernen“, sagte Siedentopf, „aber aus Fukushima haben wir keine genauen Zahlen über Strahlenschäden oder Missbildungen bei Kindern.“ Nach wie vor gelte die „offizielle Doktrin, dass unter 100 Millisievert nichts passieren kann.“ Es entstehe der Eindruck, „dass bei den Untersuchungen nichts gefunden werden soll.“
Die Ärztedelegation mit Teilnehmern unter anderem aus den USA, Indien, Australien, Israel und Deutschland hatte deshalb bei ihrem Besuch in Japan Ende August gefordert, ein umfassendes Register über alle Strahlenopfer von Fukushima aufzubauen. Die UN sollten internationale Studien in Auftrag geben, um die Gefahr von atomarer Niedrigstrahlung zu untersuchen und sich dabei nicht auf die Atombehörde IAEO verlassen, sondern auf die UN-Universitäten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“