Im Parlament geschieht schon lange nichts mehr. Wer immer dort spricht, hat nichts zu sagen oder sagt nichts. Bei der Debatte um den massenhaften Mißbrauch von Kindern im vergangenen Jahr schockierte mich das, weil es mir klar machte, daß das Parlament tot ist. Ich habe damals einen Text zu diesem Thema gemacht. Alle Abgeordneten und MInisterInnen haben ihn erhalten, bis auf Christine Bergmann hat niemand geantwortet. Übrigens haben auch alle Zeitungen, - auch die taz - es abgelehnt, ihn zu veröffentlichen. Das Parlament, wie auch die Medien oder die politischen Talk-Runden, das ist ein einziger Wortschwall, der brav an den Oberflächen bleibt. Keiner spricht wirklich. Wenn der Papst nun im Parlament 'spricht', ist das nur folgerichtig. Mir ist das vollkommen gleichgültig.
"(…) man redet im Parlament darüber [wie man es in den Talk-Shows im Fernsehen tut]. Man redet darüber, wie man dort immer über Themen redet. Man gibt eine Rolle. Zieht eine Show ab. Niemand krümmt sich vor Schmerz oder Gram wegen des hunderttausendfachen Leids der Kinder. Da ist keiner, der vom Kummer der Überlebenden umgeworfen wird. In dem Paralleluniversum, in dem diese Leute leben, werden sie von derlei nur an den Rändern erreicht. Hinzu kommt, daß alle besoffen sind von ihrer eigenen Wichtigkeit. Die Regierungschefin tritt auf. Sie sagt etwas zum Mißbrauch. Sie tut dies so, wie sie es immer tut. Sie könnte ebensogut über etwas anderes reden. Etwa über Elektroautos oder die Krise in Griechenland. Eine Sache von wenigen Sätzen. So dahingesagt, daß niemand sie anzweifelt. Oder jeder sie anzweifelt. Ohne daß es jemanden interessiert. Als am Nachmittag die Bundesfamilienministerin spricht, ist das Parlament nahezu leer. Das wichtigste Thema, über das im Parlament jemals gesprochen werden wird. Und außer einigen Figuren in der ersten Reihe, die telefonieren, SMS schreiben oder Akten lesen, ist keiner mehr da. Die Kamera fängt kilometerlang die leeren Sitzreihen ein. Es ist gespenstisch. Gelegentlicher Applaus für die sehr junge, sehr unsicher, beinahe schutzlos wirkende Frau am Rednerpult. Ihre Rede und ihre Bewegungen, die Mimik, alles wirkt wie einstudiert. Ein wenig angestrengt. Man möchte zu ihr gehen, den Arm um sie legen. Sie beschützen. Es ist nicht rational. Eher instinktiv. Man wartet darauf, daß sie die Dinge beim Namen nennt. Daß sie sagt, wie Kinder in den zurückliegenden Jahrhunderten behandelt wurden. Daß die Kinder ausgepeitscht wurden, weil sie mit vier Jahren noch nicht lesen konnten. Daß sie nackt in Kellern eingesperrt wurden. Daß man sie Leichen von anderen Kindern betrachten ließ und ihnen drohte, daß auch ihnen dieses Schicksal zuteil werden würde, wenn sie nicht gehorchten. Daß man ihnen häßliche Puppen schenkte, um sie zu erschrecken. Daß man sie ersäufte, weil sie mißgestaltet waren. Sie ermordete, weil sie im Weg waren. Sie verkaufte. Weggab. Wegwarf. Daß man ihnen Opium und Schnaps gab, um sie ruhig zu halten. Ihnen Klistiere verabreichte, um sie sauber zu kriegen. Sie zwölf Stunden am Tag und länger arbeiten ließ. Daß man sie ihren depressiven Vätern zum Beischlaf ins Bett legte, damit es diesen anschließend besser ging. Daß die Kirche und das, was man Christentum nennt, immer mit dabei waren, wenn es darum ging, den Kindern Schmerz und Leid zuzufügen. Daß sie es ausspricht, was man heute den Kindern antut. In den Kinderzimmern. In den Bordellen. In den Kirchen und Vereinen. Dort, wo gesungen und geturnt wird. In den Schulen, Heimen und Internaten. In den Familien! Daß sie sagt, was Männer den Kindern antun. Den eigenen und den fremden. Daß die Kirche wieder mitmacht. Und daß man überlegen muß, ob es nicht besser wäre, das Christentum zu ächten. Die Kirche auf eine Stufe zu stellen mit anderen Sekten, etwa den Scientologen. Daß sie fragt: Warum töten wir diese Männer nicht? Und: Töten wir diese Männer nicht, weil wir ein Recht haben? Weil wir zivilisiert sind? Daß sie sagt: Wir mögen das Recht haben. Aber wir ficken unsere Kinder. Ist das besonders zivilisiert? Daß sie weiter fragt: Was wollen wir mit solchen Männern? Männer, die nicht begreifen, was sie anrichten. Wollen wir wirklich noch länger mit solchen Männern leben? Damit es ein einziges Mal gesagt wäre. Damit man dann sagen könnte: Nein, das tun wir nicht. Wir töten diese Männer nicht. Wir tun, was nötig ist. Wir streiten uns nicht zehn Jahre lang darüber, wie wir verhindern, daß es Kinderpornographie im Internet gibt. Wir haben das Recht. Wir schützen unsere Kinder. Wir schützen jedes einzelne Kind. Wir handeln. Wir haben den absoluten Willen zu handeln. Mit dem Recht, das wir haben, sorgen wir dafür, daß kein einziges Kind mehr solches Leid erfährt. Daß kein Kind mehr in pornographischen Posen im Internet zu finden ist. Und daß jedem Kinderficker das Gehirn gewaschen wird, wie und mit welchen Mitteln auch immer. Wir werden nicht mehr unsere Freiheit oder die Freiheit im Netz zum Ziel haben, ohne gleichzeitig die Freiheit der Kinder zum Ziel zu haben. Doch sie sagt es nicht. Sie sagt das alles nicht. Sie schreit nicht vor Wut. Sie ist nicht außer sich vor Empörung. Sie ist politisch korrekt. Sie sagt, was man sagt, wenn man politisch korrekt ist. Ihre Worte klingen hohl und ausgeleiert. Ich verstehe nicht, wie ihr das gelingt. Darüber zu sprechen, ohne wirklich etwas dazu zu sagen. Daß nichts, von dem, was sie sagt, im Gedächtnis bleibt. Weil nichts von dem, was sie sagt, weh tut. Weil niemand deswegen aufschreckt. Weil sie nicht improvisiert. Sie erfindet keine neue Sprache."
(…)
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©RW, 2010
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