Kommentar Mindestlohn: Zeitungen kaufen keine Zeitungen
Zeitungsverlegern ist es gelungen, ihre Austräger vorerst vom Mindestlohn auszunehmen. Damit verfolgen sie eine fatale Logik.
D ie Medien werden gern die „vierte Macht im Staate“ genannt. Diesen Einfluss nutzen die Medien hemmungslos, wenn es um ihre eigenen Brancheninteressen geht. Diesmal ist es den Zeitungsverlegern gelungen, ihre Austräger vorerst vom gesetzlichen Mindestlohn auszunehmen.
Zeitungsboten sind eine eher kleine Gruppe, sodass man denken könnte: Na und? Aber die Verlage folgen einer fatalen Logik, die in allen Branchen zu finden ist – und die erklärt, warum es so lange gedauert hat, einen Mindestlohn in Deutschland durchzusetzen.
Die meisten Firmenchefs begehen den Denkfehler, Betriebs- und Volkswirtschaft zu verwechseln. Nach dem Motto: Was für unser Unternehmen gut ist, ist gut für Deutschland. In dieser Logik sind Löhne nur Kosten, die möglichst zu drücken sind. Den Unternehmern entgeht, dass die Angestellten gleichzeitig ihre besten Kunden sind. Wenn die Löhne sinken, sinkt auch die Nachfrage. Man kann den Spruch gar nicht oft genug zitieren, der Henry Ford angedichtet wird: „Autos kaufen keine Autos.“
Das betriebswirtschaftliche Kostenargument wird besonders gern in Branchen bemüht, die strukturell in der Krise sind. Auch dafür sind die Zeitungsverlage typisch: Sie kämpfen mit schwindenden Auflagen und verlorenen Anzeigen, weswegen es naheliegend erscheint, bei den Zeitungsboten zu sparen.
Gleiche Debatte bei ostdeutschen Friseuren
Die gleiche Debatte kreiste um ostdeutsche Friseure. Jede Talkshow fragte bang: Würden die Salons pleitegehen, wenn der Mindestlohn kommt?! Diese Sorge ist doppelt unberechtigt. Vor Ort wird eine Art Kreisverkehr stattfinden: Wenn jeder Ostdeutsche mindestens 8,50 Euro verdient, werden sich mehr Leute einen Friseur leisten können.
Vor allem aber: Die Rechnung ging nicht auf. Um ein paar angeblich gefährdete Stellen zu erhalten, wurde toleriert, dass die Reallöhne auf breiter Front sanken. Die deutschen Arbeitnehmer verdienen heute im Durchschnitt 0,7 Prozent weniger als im Jahr 2000. Und weil die Binnennachfrage fehlte, ist die Wirtschaft kaum gewachsen. Es hat Jobs gekostet, nicht gerettet, viel zu lange auf den Mindestlohn zu verzichten.
Auch jetzt ist es nicht perfekt. Der Mindestlohn müsste bei 10 Euro pro Stunde liegen, um die Leistungskraft der deutschen Volkswirtschaft abzubilden. Also bitte, keine Rücksicht mehr auf die Zeitungsverleger!
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Anschlag in Magdeburg
Auto rast in eine Menschenmenge auf dem Weihnachtsmarkt
Wahlprogramm von CDU und CSU
Der Zeitgeist als Wählerklient
Anschlag auf Magdeburger Weihnachtsmarkt
Vieles deutet auf radikal-islamfeindlichen Hintergrund hin
Kretschmer als MP von Linkes Gnaden
Neuwahlen hätten der Demokratie weniger geschadet
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen