Kommentar 150 Jahre „Das Kapital“: Eine Qual? Nein, ein Epos
Obwohl der Stil so sperrig ist, übt Marx’ Hauptwerk einen ungeheuren Sog aus. Es ist bis heute ein Bestseller. Seine Analyse ist immer noch aktuell.
M arx' Buch „Das Kapital“hat Millionen von gutwilligen Lesern zur Verzweiflung gebracht, denn schon der allererste Absatz ist eine Zumutung. Umständlich heißt es: „Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine ‚ungeheure Warensammlung‘, die einzelne Ware als seine Elementarform. Unsere Untersuchung beginnt daher mit der Analyse der Ware.“
Noch schlimmer geht es stilistisch nicht. Auch Marx wusste, dass seine ersten Kapitel unmöglich waren. Im Vorwort zum „Kapital“ schrieb er: „Aller Anfang ist schwer.“ Seine Ehefrau Jenny riet einem befreundeten Sozialisten beherzt, „die dialektischen Spitzfindigkeiten der ersten Abschnitte“ einfach zu überspringen.
Doch obwohl der Stil so sperrig ist, übt Marx’Hauptwerk einen ungeheuren Sog aus. „Das Kapital“ ist bis heute ein Bestseller und erreicht Verkaufszahlen, von denen die lebenden Ökonomen nur träumen können. Aber warum ist Marx so faszinierend? Diese Frage hat wieder Hochkonjunktur, denn es gilt, ein Jubiläum zu feiern: „Das Kapital“wird 150 Jahre alt.
Marx’Wirkungsgeschichte ist auch deswegen so bemerkenswert, weil längst nicht alle Prognosen oder Analysen richtig waren. Mainstream-Ökonomen finden vor allem amüsant, dass es nicht zu jenem Massenelend gekommen ist, das Marx prognostiziert hatte. So höhnte der Nobelpreisträger Paul Samuelson: „Man sehe sich die Arbeiter mit ihren Autos und Mikrowellen doch an – besonders verelendet sehen sie nicht aus.“
Gewinnstreben als Selbstzweck
Dieser Spott ist jedoch ein bisschen billig. Es ist immer einfach, hinterher schlauer zu sein. Als „Das Kapital“1867 erschien, waren viele Arbeiter noch bitterarm. Dieses Elend ließ sich sogar eindeutig messen – an der Körperlänge. Durch die Mangelernährung sank die durchschnittliche Größe der Soldaten. Genüsslich zitierte Marx die amtlichen Statistiken: „Das Militärmaß in Sachsen 1780: 178 Zentimeter, jetzt 155. In Preußen sind es 157.“ Dort seien von „1.000 Konskribierten 716 untauglich zum Militärdienst: 317 wegen Mindermaß und 399 wegen Gebrechen.“
Diese bittere Armut ist längst überwunden. Trotzdem fasziniert Marx bis heute, weil er der erste Theoretiker war, der die Dynamik des Kapitalismus richtig beschrieben hat. Die moderne Wirtschaft ist ein permanenter Prozess – und kein Zustand. Einkommen ist niemals garantiert, sondern entsteht erst, wenn unablässig investiert wird.
Der Kapitalist darf niemals ruhen, kann sich nicht am Erreichten freuen, sondern muss die Profite stets erneut in seine Unternehmen stecken, wenn er im Rennen bleiben will. Das Gewinnstreben scheint zum Selbstzweck zu verkommen, oder wie es Marx in einem seiner berühmtesten Zitate formulierte: „Akkumuliert, Akkumuliert! Das ist Moses und die Propheten!“
Indem Marx den systemischen Prozess betonte, die permanente Verwertung, verlieh er dem Begriff „Kapital“ eine neue Bedeutung. Bis dahin hatten die Ökonomen das Kapital als etwas Statisches betrachtet. Geld und Maschinen galten als Vermögenswerte „an sich“, die man mühelos bilanzieren konnte. Bei Marx gab es keine Werte, die irgendwie vorhanden waren. Kapital bildete sich erst, wenn produziert wurde, wenn Güter entstanden, die sich mit Gewinn verkaufen ließen.
Vom technischen Fortschritt fasziniert
Marx war vom technischen Fortschritt fasziniert; selbst scheinbar kleinste Erfindungen begeisterten ihn: „Eine auf der Londoner Industrieausstellung von 1862 ausgestellte amerikanische Maschine zur Bereitung von Papiertüten schneidet das Papier, kleistert, faltet und vollendet 300 Stück per Minute.“
Aber was trieb diese rastlose Dynamik im Kapitalismus an? Heute erscheint es uns selbstverständlich, dass Kapitalisten ständig investieren. Doch dieser permanente Verwertungsprozess war erklärungsbedürftig, und Marx erkannte als Erster, dass die Technik dabei eine zentrale Rolle spielt. Sobald sie systematisch eingesetzt wird, entfaltet sie ihre eigene Logik.
ist Wirtschaftskorrespondentin der taz. Ihr neuestes Buch: „Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung. Die Krise der heutigen Ökonomie – oder was wir von Smith, Marx und Keynes lernen können“ (Westend 2016)
Für jeden Unternehmer ist es attraktiv, neue Maschinen anzuschaffen, die produktiver sind als die Anlagen der Konkurrenz. Denn sobald ein Fabrikant seine Waren billiger herstellt, kann er sie auch billiger verkaufen – und einen Extraprofit erwirtschaften, den Marx „Extramehrwert“ nannte. Die Wettbewerber müssen jedoch sofort nachziehen, wenn sie nicht vom Markt gefegt werden wollen. Also investieren auch sie in neue Maschinen, und der Extramehrwert verschwindet wieder.
Jeder Kapitalist unterliegt damit dem „Zwangsgesetz der Konkurrenz“, wird von seinen Wettbewerbern getrieben und weitet seine Produktion ständig aus, um nicht unterzugehen. Doch die meisten Märkte sind irgendwann gesättigt und können die zusätzlichen Waren nicht mehr aufnehmen. Den Verdrängungswettbewerb überleben nur jene Firmen, die am billigsten produzieren können. Dies sind meist die Großkonzerne.
Marx’ Analyse gilt bis heute
Marx war der erste Ökonom, der klar beschrieb, dass der Kapitalismus zum Oligopol neigt. Die kleinen Firmen werden verdrängt, bis nur noch wenige Großkonzerne eine ganze Branche beherrschen. Oder um es mit Marx zu sagen: Es kommt zur „Expropriation von Kapitalist durch Kapitalist“.
Viele Firmen müssen schon deswegen aus dem Wettbewerb ausscheiden, weil sie sich die teuren Maschinen schlicht nicht leisten können. Wie Marx präzise beschrieb, bleibt den kapitalschwachen Betrieben nur die Nische: „Die kleineren Kapitale drängen sich daher in Produktionssphären, deren sich die große Industrie nur noch sporadisch oder unvollkommen bemächtigt hat.“
Bücher leihen und Shoppingmalls meiden: Viele Menschen bekommen nur eine winzige Rente. Kann man so in Würde altern? Könnten 900 Euro Mindestrente etwas daran ändern? Ab wann fühlt man sich arm? Eine Geschichte über Verzicht, in der taz.am wochenende vom 4./5. Februar 2017. Außerdem: In Nicaragua tut sich Unglaubliches. Ein Reisebericht. Und: Ein Gespräch mit der Friedensforscherin Heela Najibullah, Tochter des früheren Präsidenten Afghanistans. Das alles und noch viel mehr – am Kiosk, eKiosk oder im praktischen Wochenendabo.
Marx’Analyse gilt bis heute, wie aktuelle Zahlen des Statistischen Bundesamts zeigen: Großkonzerne machen zwar nur ein Prozent der deutschen Firmen aus, aber im Jahr 2012 generierten sie 68 Prozent des gesamten Umsatzes. Gleichzeitig sind 81 Prozent aller Firmen Kleinstbetriebe – aber gemeinsam kamen sie 2012 nur auf ganze 6 Prozent des Umsatzes. Die deutsche Wirtschaft ist also extrem konzentriert; wenige Großkonzerne kontrollieren die gesamte Wertschöpfungskette, von den Rohstoffen bis zum Absatz.
Der Kapitalismus ist zutiefst dialektisch: Die Konkurrenz treibt die Unternehmer an, bis von der Konkurrenz fast nichts mehr übrig ist. Doch obwohl Marx diese Erkenntnis schon vor 150 Jahren formulierte, ist sie im ökonomischen Mainstream noch immer nicht angekommen. Stattdessen träumen die meisten Volkswirte weiterhin von einer „Marktwirtschaft“, die durch „perfekten Wettbewerb“ gekennzeichnet sei.
Es ist kein Zufall, dass die Mainstream-Ökonomen so beharrlich versuchen, Marx zu ignorieren und zu tabuisieren. Denn wenn sie ihn lesen würden, wäre ihre eigene Theorie obsolet.
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