Kolumne Macht: Die Ideologie des Westens
Realpolitik ist heute zum Synonym für Machtpolitik geworden. Menschenrechte? Können warten.
W ie wunderbar das doch sei, dass ideologische Grabenkämpfe der Vergangenheit angehörten, und wie entspannt Familienfeste seither geworden seien: Davon schwärmen noch heute, ein Vierteljahrhundert nach dem Ende des Kalten Kriegs, viele Leute – darunter besonders viele, die sich früher für links gehalten haben.
Man möchte ja niemandem die Freude verderben, aber wie kommen die Leute auf diese Idee? Mehr Ideologie war nie, und falls doch, dann kann ich mich daran nicht erinnern. Und ich bin immerhin 57 Jahre alt.
Die Ideologie von heute ist allerdings schlicht gestrickt. Wir – also der Westen – kämpfen für Demokratie, Freiheit, Menschenrechte und ganz allgemein für das Gute. Wenn im Zuge dieses Kampfes einer dieser Werte oder das allgemein Gute vorübergehend auf der Strecke bleiben, dann ist das sehr traurig. Aber leider im übergeordneten Interesse unvermeidlich. Wenn hingegen andere demokratische Grundsätze und die Menschenrechte verletzen, dann zeigt das, wie böse sie sind.
Ich finde es nicht erstaunlich, dass die Regierungen einflussreicher Staaten derartige Propaganda betreiben. Erstaunlich finde ich, dass sie es als Realpolitik bezeichnen dürfen. Dabei hat diese Haltung mit Realpolitik nicht das Geringste zu tun, im Gegenteil.
Beispiel Syrien. Der Iran, ohne den eine Lösung des Syrien-Konflikts nach übereinstimmender Ansicht vieler Fachleute undenkbar ist, wird auf Druck der USA hin von der Friedenskonferenz in der Schweiz ausgeladen. Saudi-Arabien darf mitmischen. Das Regime dieses Landes unterstützt unverblümt islamistische Terroristen, ist aber ein strategischer Verbündeter des Westens. Wir lernen auch nichts dazu.
Als ein Chemiker 1958 die Diätmargarine erfindet, will er das Essen gesünder machen. Als ein Softwareentwickler 2013 aufhört zu essen, will er sich optimal ernähren. Wie das geht, lesen Sie in der taz.am wochenende vom 25./26. Januar 2014 . Außerdem: Ein Jahr nach dem #aufschrei haben wir die Protagonistinnen der Debatte wieder an einen Tisch gebeten. Ein Streitgespräch. Und: Die Jungen von Davos. Das Weltwirtschaftsforum ist nicht nur der Treffpunkt grauhaariger, alter Manager. Es nehmen immer mehr teil, die eine bessere Welt wollen. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Beispiel Ukraine. In Kiew lässt die autoritäre Regierung von Präsident Viktor Janukowitsch auf Demonstranten schießen. Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel ist „aufs Äußerste besorgt und empört“ über Gesetzesverfahren, die demokratische Grundrechte einschränken. Das ehrt sie.
Aber wie hätte sie wohl reagiert, wenn die Vorzeichen umgekehrt wären, Janukowitsch also eine stärkere Zusammenarbeit mit der EU wünschte und die Demonstranten sich nach Moskau hin orientieren wollten? Nun, das kann man nicht wissen. Oder? Doch, das kann man durchaus wissen. Man braucht bloß nach Kairo zu schauen.
Mit Luzifer persönlich reden
Beispiel Ägypten: Dort unterdrückt das Militär, das dem Westen der vergleichsweise noch immer beste Garant für Stabilität zu sein scheint, die Anhänger einer gestürzten islamistischen Regierung und säkulare Demokraten gleichermaßen. Macht nichts, zur Beachtung der Menschenrechte kann man ja später noch kommen. Erst einmal geht es darum, diesen geostrategisch bedeutenden Stützpunkt nicht zu verlieren. Im Sinne der Realpolitik, versteht sich.
Früher bedeutete Realpolitik, dass man sogar mit Vertretern von Regierungen verhandelte, die man für verbrecherisch hielt. Um Verbesserungen für die unterdrückte Bevölkerung zu erreichen. Inzwischen ist der Begriff Realpolitik zum Synonym für Machtpolitik geworden.
Es ist akzeptiert, dass wir Kompromisse schließen müssen, um unsere Werte gegen alle Feinde erfolgreich verteidigen zu können. Allerdings nicht mehr mit den Feinden, sondern im Hinblick auf die Werte selbst. Der Zweck heiligt also die Mittel.
Ein derartiger Blick auf die Welt war von jeher das Merkmal von Ideologen. Ginge es dem Westen tatsächlich um Menschenrechte, dann würde die US-Regierung mit Luzifer persönlich reden, um die verzweifelte Lage der Menschen im syrischen Aleppo zu verbessern. Aber Washington will nicht einmal mit den Vertreten des Iran sprechen. Mehr Ideologie war nie.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Grundsatzpapier von Christian Lindner
Eine gefährliche Attacke
Alkoholpreise in Deutschland
Das Geschäft mit dem Tod
Jüdische Wähler in den USA
Zwischen Pech und Kamala
Experten kritisieren Christian Lindner
„Dieser Vorschlag ist ein ungedeckter Scheck“
Soziologe über Stadt-Land-Gegensatz
„Die ländlichen Räume sind nicht abgehängt“
Regierungskrise der Ampel
Schmeißt Lindner hin oder Scholz ihn raus?