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Kim de l'Horizons „Blutbuch“Das leibliche Ding feiern

Premiere in Potsdam: Kieran Joel bringt nach Kim de l’Horizons Roman „Blutbuch“ eine Landschaft aus Großmutterfleisch überzeugend auf die Bühne.

Szene aus „Blutbuch“ Foto: Thomas M. Jauk

Im Herbst 2022 sorgte die nonbinäre Person Kim de l’Horizon bei der Verleihung des Deutschen Buchpreises für Aufsehen, als sie sich aus Solidarität mit den Frauen im Iran den Schädel kahl rasierte. Ihr ausgezeichneter Roman „Blutbuch“ ist seither mit dieser Performance verbunden, eine Trennung von Autorschaft und Werk ergibt hier noch weniger Sinn als in vergleichbaren autofiktionalen Büchern. Der Leib der Autorenperson wird in „Blutbuch“ in Relation zu denen anderer Menschen erklärt, definiert und erforscht.

Im Zentrum der Selbstbefragung steht die Familie. Der ewig schweigende Vater „Peer“ (Jan Hallmann), der aus sieben Häuten bestehe, die erste aus totem Hirsch, die siebte aus Zartheit. Außerdem die Mutter oder „Meer“, wie es im Schweizerdeutschen heißt. Sie scheint im Spiel von Janine Kreß in einer Dramatisierung des Romans im Hans Otto Theater in Potsdam drei Leiber zu haben, einer, der immerzu arbeitet, einer, der ständig erschöpft ist, und einer, der die anderen beiden beobachtet und ihre Zustände live kommentiert.

Im Zentrum der Inszenierung von Kieran Joel aber steht die Großmeer, die sich in der Reithalle des Potsdamer Hans Otto Theaters in Pose geworfen hat. Nackt auf dem Rücken liegend, füllt sie, von der Bühnenbildnerin Barbara Lenartz entworfen, mit sicher zehn Metern vom Kopf bis zu den fast mannshohen Füßen die Bühne aus.

Charlott Lehmann und Paul Sies, die beide die Hauptfigur Kim spielen, tollen auf dieser Landschaft aus Fleisch herum, rutschen über die Brüste, klettern die baum­dicken Oberschenkel hinauf zum Knie, kriechen in die leeren Augenhöhlen, schlüpfen durch rotes Schamhaar.

Gewalt der Kategorisierungen

Da wäre in Kieran Joels Inszenierung also einerseits der riesenhafte, aber zugleich verschwindende, der sterbende Körper der alten Frau, der, einer Demenz geschuldet, seine eigenen Grenzen nicht mehr klar erkennen kann, der Kim ständig berührt, streichelt, abklopft, um sich zu vergewissern, wo sie aufhört und der andere Mensch anfängt. Und außerdem wäre da Kims kleiner Kinderkörper, der noch keinen Begriff von sich hat, nur Ahnungen und Intuitionen. Nadine Nollau zieht einen Männerschuh an, probiert ein paar Schritte zu laufen, schlüpft dann mit dem anderen Fuß in einen hochhackigen Schuh und stapft zufrieden über die Bühne.

Vor der Großmutter spielt das Kind Modenschau und hängt sein ganzes Glück daran, ob sie seine Schönheit lobt oder es tadelt, weil es „Mädchenkleidung“ trage. Eine solche Kategorisierung ist hier nichts anderes als nackte Gewalt. Nein, kein Mann und keine Frau dürfe er sein, so formuliert die Erzählerfigur früh ihr Ziel.

Doch das ist leichter gesagt als getan. Kim spürt den eigenen Körper später nur beim Sex, bietet ihn Männern zur freien Benutzung an, lässt sich die wachsende Zahl von Liebhabern in Strichlisten auf den Rücken tätowieren, in der Hoffnung, dass die Summe irgendwann den eigenen Selbsthass übersteigt.

Das schmerzt, blutet, vögelt

Wie lässt sich Übereinstimmung herstellen zwischen dem, was man fühlt und denkt, und dem, was man ist? Nur über die Tat, die Handlung, den ganz konkreten Akt. „Blutbuch“, das ist eine Literatur, die sich nicht mit dem ­Schreiben zufrieden gibt, die Sprache nicht als etwas Abstraktes anerkennt, sondern sie als ein leibliches Ding feiert, das schmerzt, blutet, vögelt.

Deswegen ist der Stoff auch hier auf der Bühne so gut aufgehoben: Weil das Theater nie im Stoff, im Stück, im zu vermittelnden Inhalt aufgeht, sondern immer auch von den Körpern erzählt, die sich verausgaben, verrenken, die in sich selbst nach etwas anderem suchen. Wenn das fünfköpfige Ensemble nach gut zwei Stunden beim Applaus verschwitzt und aufgekratzt ins Scheinwerferlicht blinzelt, bekommt man eine Ahnung von all den Geschichten, die sich hinter ihren Schweißtropfen oder Falten verbergen könnten.

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