Berlin-Wahl: Piratinnen und Piraten: Partei mit Testosteronüberschuss
In der Piratenpartei gibt es deutlich weniger Frauen als Männer. Kein Problem, finden die meisten Piratinnen: Über Genderfragen sei man weitgehend hinaus.
Natürlich ist es eine Karikatur. Das goldene Eichhörnchen auf der Einladungskarte, die elegant geschwungene Schrift auf dem Briefumschlag. Die französischen Höflichkeitsformeln. Die kleinen Törtchen mit pastellfarbenen Güssen, verpackt in farblich passende Tütchen. Die hohen Absätze, die breiten Gürtel und die Kleider: alles Karikatur, alles Übertreibung dessen, was als gesellschaftlich feminin wahrgenommen wird, um auf die Rückständigkeit von Geschlechterrollen im Allgemeinen und in der eigenen Partei im Besonderen hinzuweisen.
Es ist ein Abend kurz vor der Abgeordnetenhauswahl. Im ersten Stock eines Neuköllner Altbaus klingelt es im Minutentakt an der Tür. Treppe hoch, erster Stock, linke Tür, hier trifft sich heute "Le Kegelclub", eine informelle, unregelmäßig zusammenkommende Gruppe von Menschen aus der Piratenpartei, die sich als Piratinnen fühlen. So beschreibt es Piratin Lena Rohrbach. Ein gutes Dutzend sind heute gekommen, um bei Törtchen, Torte und Bowle den Abend zu verbringen.
Im Wohnzimmer stehen Julia Schramm und Manuela Schauerhammer. In der Hand ein Glas Bowle, hinter ihnen blumenförmige Lampen, die die goldene Wand anstrahlen, passend zum goldenen Stuck an der Decke. Um die Ecke leuchten Blumenborten von der Wand, aus den Boxen klingt leise Cembalomusik. Es wäre kitschig, hätte nicht die Dekoration in den hohen Räumen so viel Luft sich zu entfalten. Und würden nicht die Gespräche der anwesenden Piratinnen ihren ganz eigenen Kontrapunkt setzen.
Abgeordnetenhaus: Die meisten Umfragen sehen die Piratenpartei bei mindestens 5 Prozent. Das würde den Einzug ins Parlament bedeuten. Bei der vergangenen Bundestagwahl im Jahr 2009 kam sie berlinweit auf 3,4 Prozent.
Bezirke: In den Bezirksverordnetenversammlungen (BVV) gilt nur eine Hürde von 3 Prozent. Hier gilt es als sicher, dass die Piratenpartei in mindestens eine BVV einzieht. In einem Wahlkreis des Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg holte sie bei der vergangenen Bundestagswahl bereits 9 Prozent der Stimmen.
Programm: In ihrem Programm konzentriert sich die Partei vor allem auf Bürgerbeteiligung, Transparenz und Netzpolitik. So fordert sie unter anderem, sämtliche Vertragsverhandlungen und -abschlüsse der öffentlichen Hand zugänglich zu machen, freien Internetzugang per WLan und Bürgerhaushalte in sämtlichen Bezirken einzurichten. Deutlich dünner sieht es dagegen bei wirtschafts- und finanz- sowie umweltpolitischen Themen aus.
Schramm ist eine von denen, die den Abend und den Kegelclub organisieren. Etwa seit einem halben Jahr gebe es die Treffen - immer dann, wenn man mal wieder Lust habe zu quatschen, erklärt sie. Manchmal sei man zu fünft, manchmal kämen um die zwanzig. Heute Abend ist ein gutes Dutzend versammelt, immer wieder kommen Mitglieder dazu, einige verabschieden sich. Wahlkampf, die Terminkalender sind dicht.
Die Piratenpartei hat ein Frauenproblem - oder ein Männerproblem, je nach Sichtweise. Das ist die Diagnose auf den ersten Blick. Knapp 1.000 Mitglieder gibt es im Berliner Landesverband, wie viele davon Frauen sind, wird nicht gezählt. "Die Piratenpartei lehnt die Erfassung des Merkmals ,Geschlecht' durch staatliche Behörden ab", heißt es dazu im Grundsatzprogramm der Partei, auf das ihre Anhänger gern hinweisen. Kästchen zum Ankreuzen nebst den Wörtern "männlich" und "weiblich" gibt es auf dem Anmeldeformular für die Piratenpartei nicht.
Doch wer auf Termine geht, um Piraten zu treffen, merkt schnell: Hier herrscht Männerüberschuss, und zwar deutlich. Egal ob im Straßenwahlkampf, beim wöchentlichen Netzwerken in der Neuköllner Kneipe Kinski oder auf der Landesliste. Eine einzige Frau steht da zwischen 14 Männern. Eine zweite hatte bei der Listenaufstellung ihre Kandidatur aus privaten Gründen zurückgezogen.
Im Kegelclub will man diese Diagnose nicht durchgehen lassen. "Klar spiegelt sich die Prägung von Geschlechterdifferenzen auch bei den Piraten wider, aber weniger als bei anderen Organisationen", sagt Schramm. Die anderen nicken. Die Argumentation, die die Piraten seit ihren Anfängen nutzen: Man sei über Genderfragen weitgehend hinaus, es gehe nicht einfach darum, Frauen in bestimmte Positionen zu bringen, sondern qualifizierte Menschen. Und außerdem unterschlage ja die Unterscheidung zwischen Frauen und Männern Transgender und intergeschlechtliche Menschen. Wobei, "Frauen" sagen sie hier nicht, sie sagen "Menschen, die als Frau sozialisiert wurden". Zumindest halten die meisten es so.
Doch das innere Verständnis der Partei ist das eine, die Außenwirkung das andere. "Es fällt schon auf, dass nur eine Frau auf der Liste ist", sagt Rohrbach. "Das ist auch nicht besonders repräsentativ für den Landesverband Berlin", ergänzt Schauerhammer. Eine Spur von Ratlosigkeit ist in der Runde zu spüren. Natürlich würden Frauen in Organisationen durch Frauen angezogen, wirft eine Piratin ein. Wo wenig Frauen seien, kämen wenige dazu. Nur, wie ließe sich das ändern?
Einen Versuch startete vor anderthalb Jahren Leena Simon. Sie hatte auf einem Parteitag angekündigt, eine Mailingliste für weibliche Mitglieder zu gründen. Es gebe bei den Piraten genauso machistische Diskussionen wie überall und ebenso Frauen, die eine andere Atmosphäre brauchten, um sich zu äußern, argumentierte sie damals. Gleichstellung und Gleichberechtigung sei eben nicht dasselbe. Und schließlich spreche man auch in der Partei standardmäßig von "Piraten", nicht von "Piratinnen". Warum eigentlich nicht? Wenn doch alle so gleich seien?
Simons Initiative löste einen Sturm der Entrüstung aus. Der Landesvorstand lehnte die Idee ab, im Internet hagelte es blöde Witze, Diffamierungen und Anfeindungen.
Beim Kegelclub steht Simon im Piraten-T-Shirt neben dem Tisch mit den aufgetürmten Kuchen, wirft ihre Tasche auf den Boden und entschuldigt sich für das Outfit: Sie komme gerade vom Flyer-Verteilen. "Ich musste das Thema einfach ganz laut auf den Tisch bringen", sagt sie rückblickend. Auch wenn sie damit erst einmal eine Gegenreaktion provoziert habe, meint Rohrbach: Bei Begriffen wie Gender und Feminismus sei bei vielen erst einmal eine Schranke heruntergegangen. Aber es habe etwas geholfen, sagt eine Piratin: "Die Sensibilität ist heute höher." Egal ob es um derbe Witze gehe oder persönliche Bemerkungen. "Es ist besser, dass wir diesen Gender-Knall vor anderthalb Jahren hatten, als dass wir ihn jetzt haben", sagt Simon.
Natürlich, der Wahlkampf. Denn es geht längst nicht nur um Geschlechterrollen heute Abend. Nicht alle stehen auf der Straße und werben um Wähler, einige arbeiten lieber thematisch, andere haben gerade wenig Zeit, halten sich zurück. Vom Wahlkampf geht es zum Grundsatzprogramm der Partei, zu offenen Positionen im Programm, zur Wohnungsdekoration, zu Farben von Kinderzimmern, zur geschlechterneutralen Erziehung, zu Jungs, die Glitzerröcke tragen wollen, zum Rollenverständnis und zur Sexualaufklärung in den USA, zum Datenschutz und zur Problematik, dass Netzpolitik oft als Luxusthema gilt.
Die Diskussion hat Tempo. Die Piratinnen reden viel und schnell, trotzdem fallen sie sich nie ins Wort. Es ist eine andere Atmosphäre als beim wöchentlichen Treffen im Kinski: Die Dynamik, die Geschwindigkeit, die Kontroverse und die Überzeugungen sind die gleichen, aber das Spannungsgeladene fehlt. Wenn sich eine Person dem Kreis nähert, bildet sich sofort eine Lücke, um Platz zu schaffen, zu integrieren. Ist das weiblich? Oder Zufall?
Susanne Graf ist die einzige Frau auf der Landesliste der Piraten. Dass sie jung ist, 19, fällt weniger auf in einer Partei, die vor allem junge Menschen anzieht. "Die Frage nach dem Frauenanteil kommt oft, an Wahlständen bestimmt zwei-, dreimal am Tag", sagt Graf. Ja, das nerve ein bisschen, sie wünsche sich einfach, dass das Thema weniger Gewicht habe. Aber die Struktur einer Gesellschaft lasse sich eben nicht von heute auf morgen verändern.
"Natürlich wollen wir, dass Frauen stärker in der Politik präsent sind", sagt sie und benutzt dabei fast die gleichen Worte wie Simon. Eine Quote wäre da eine denkbare Übergangslösung. "Aber viele Frauen bei uns lehnen eine Quote ab, weil sie keine Quotenfrau sein wollen." Laut Graf sind im Berliner Landesverband gar nicht weniger Frauen als bei anderen Parteien - sie würden nur eher im Hintergrund arbeiten. Aus Interesse, nicht aus vermeintlich frauentypischem Rollenverhalten, betont sie.
In der Küche wird Rotwein ausgeschenkt, Kontrastprogramm zur pinkfarbenen Bowle. "Wir gehen kleine Schritte und werden wohl noch eine Weile daran arbeiten", sagt eine Piratin. Dann geht es noch einmal um die Wahl, um Balken und Hochrechnungen. "Alleine wenn die Leute sehen, da taucht eine neue Partei auf, ist das ein Riesenerfolg", sagt Simon. Und für die Abgeordnetenhauswahl 2016 wünscht sie sich, 50 Prozent Frauen dabei zu haben. Ganz ohne Quote.
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