Autobiografie von Hans-Werner Sinn: Retuschierte Irrtümer
Der Bestsellerautor und einflussreiche Ökonom hat seine Autobiografie vorgelegt. Was auffällt: Er sieht sich oft im Recht.
Schon der Titel verrät, dass eine Chance verpasst wurde. „Auf der Suche nach der Wahrheit“ hat Ökonom Hans-Werner Sinn seine Autobiografie genannt. Der Titel ist so nichtssagend wie selbstgefällig, und genauso langatmig und eitel ist auch das Buch. Dabei hätte es ein interessanter Lebensabriss werden können, denn Herkunft und Sozialisation können nicht erklären, warum Sinn zu einem führenden Neoliberalen Deutschlands wurde, der bei jeder Gelegenheit fordert, die Löhne zu senken. Wie Sinn selbst ausgiebig betont, stammt er aus einfachen Verhältnissen: „Ich weiß, was es heißt, arm zu sein.“ Die Familie wohnte in Brake bei Bielefeld; der Vater war Lastwagenfahrer und später selbstständiger Taxiunternehmer; die Mutter, ausgebildete Friseurin, arbeitete in einer Fahrradfabrik.
Sohn Hans-Werner war das erste Familienmitglied, das je ein Gymnasium besucht hat. Der Bildungsaufstieg war daher schwierig: Die achte Klasse musste Sinn wiederholen, weil er die Mathe-Aufgaben nicht verstand und ihm die Mutter nicht helfen konnte. Sinn wurde „links“ sozialisiert. Beide Großväter und der Vater waren leidenschaftliche Sozialdemokraten. Als Jugendlicher gehörte Sinn den Falken an, an seinem 18. Geburtstag trat auch er in die SPD ein, später war er kurz beim Sozialdemokratischen Hochschulbund, bewunderte Willy Brandt und nahm an Protestmärschen gegen den Vietnamkrieg teil. Seine Diplomarbeit schrieb er über den „tendenziellen Fall der Profitrate“ bei Karl Marx. Dieses Thema war allerdings nicht selbst gewählt, sondern wurde ihm von seinem VWL-Professor in Münster vorgegeben.
Wie also wurde aus einem Linken ein konservativer Ökonom? Sinn neigte bereits im Studium zum Schwarzweißdenken: Für ihn gab es nur „Markt versus Plan“. Sobald er an Kuba oder Nordkorea dachte, war ihm klar, „dass der Markt diesen Wettlauf in meinem Kopf haushoch gewinnen würde“. Sinn machte eine steile Karriere und war schon mit 36 Jahren Professor in München. Obwohl er in der Schule niemals gut in Mathematik gewesen war, publizierte er nun hoch theoretische Aufsätze, die vor Formeln strotzen. Da Sinn zur Hybris neigt, hält er bis heute fast jeden seiner Texte für ein Meisterwerk.
Doch gleichzeitig bezweifelt er inzwischen, ob diese Formeln weit tragen. Sinn sieht „die Gefahr einer Verselbstständigung der theoretischen und ökonometrischen Forschung“ und hat „das Gefühl, dass die Zahl der Studien, die sich unter Verwendung komplexer Methoden im Prinzip trivialen Inhalten zuwendet, noch immer erstaunlich hoch ist und sogar stark zugenommen hat“. Sinns Kritik ist richtig, doch die eigentliche Frage stellt er nicht: Wenn die theoretische Forschung in der herrschenden Ökonomie nichts taugt – auf welcher Basis erteilt er dann seine politischen Ratschläge? Denn mehr als diese Formeln hat ja auch Sinn nie gelernt.
Ihm fehlt ein Gefühl für Größenordnungen, wenn ihm sein Weltbild in die Quere kommt
Zudem fällt auf, dass Sinn selbst simpelste Mathematik nicht beherrscht. Ihm fehlt ein Gefühl für Größenordnungen, vor allem wenn ihm sein Weltbild in die Quere kommt. Über Großbritannien findet sich der bemerkenswerte Satz: „Im Jahr 1977 war das Bruttoinlandsprodukt je Kopf in Großbritannien nur noch halb so groß wie in Deutschland, und erst als die neu gewählte britische Premierministerin Thatcher in den Jahren ab 1979 das Ruder herumriss, ging es wieder bergauf.“
Das ist platterdings Unsinn. Die Briten waren 1977 etwa so reich wie die Deutschen. Hätte die britische Wirtschaftsleistung pro Kopf nur halb so hoch gelegen – dann wäre Großbritannien das ärmste Land in Westeuropa gewesen, sogar ärmer als die Griechen, die damals noch mit ihren Eseln aufs Feld ritten. Das ist so abwegig, dass es fassungslos macht. Erstaunlich ist auch, wie kreativ Sinn mit der Wahrheit umgeht, wenn es gilt, die eigene Prognostik hervorzustreichen.
So suggeriert Sinn, dass er schon 2003 vor einer Finanzkrise gewarnt hätte. Das hat er auch – aber er hatte die falschen Kontinente im Blick. Er sah den Crash in Südamerika oder Asien kommen, wo sich bis heute nichts ereignet hat. Über Europa und die USA hingegen schrieb er damals, sie seien bei der Bankenregulierung „auf dem richtigen Weg“. Ein fataler Irrtum, den Sinn nun retuschiert.
Kritische Auseinandersetzungen fehlen
Da Sinn die Wahrheit gepachtet hat, hält er es auch für überflüssig, sich mit Kritik auseinanderzusetzen. Über alternative Ansätze wie die „plurale Ökonomik“ schreibt er nur verächtlich: „Hinter diesem Begriff haben sich Denkmodelle versammelt, die ich ehrlicherweise nicht als Wissenschaft ansehe, sondern als linke Ideologien von der angeblich richtigen Wirtschaftspolitik. Es fehlt mir der Platz und die Bereitschaft, mich damit hier auseinanderzusetzen.“
Am Platz kann es allerdings nicht gelegen haben, dass sich Sinn die kritische Auseinandersetzung spart. Das Buch ist mit 672 Seiten deutlich zu lang, denn viele Gedanken kommen mehrfach vor; der Stil ist umständlich und neigt zur Tautologie. Über seine Freizeit schreibt Sinn: „Auf all meinen Reisen habe ich viel fotografiert, denn die Fotografie ist über viele Jahre mein Hobby gewesen.“
Zudem bleibt Sinn konsequent an der Oberfläche und scheut auch kein Klischee. Über Japan heißt es: „Seit unserer Reise im Jahr 1974 haben meine Frau und ich Japan in unsere Herzen geschlossen. Dieses saubere und durchorganisierte Land und seine fleißigen, freundlichen und höflichen Menschen gehören zu unseren Lieblingen.“
Nach 672 Seiten fragt man sich ermattet, wieso ausgerechnet Hans-Werner Sinn ein so beliebter Bestsellerautor ist. Aber vielleicht ist es ja gerade sein Hang zum Klischee, der die Leser anzieht. Wo sonst wird „Wahrheit“ geboten, ohne dass man denken müsste?
Leser*innenkommentare
schwaw
Wäre gut, die Autorin würde sich neben Geschichte und Philosophie intensiv mit Volkswirtschaft befassen, anscheinend fehlt da das Verständnis. Wenn nicht einmal Strom- und Bestandgrössen unterschieden werden (können), sollte sie sich vielleicht nicht ganz so weit aus dem Fenster lehnen.
Fakten?
Nach Angaben der Weltbank betrug das britische BIP 1977 263,066 Mrd US-$, das Deutsche 598.220 Mrd. US-$. So eine 3-minütige Recherche erwarte ich auch von einem Autor, der Anderen Unsinn vorwirft. Dass dann auch noch BIP (erwirtschaftete Leistung) mit Reichtum durcheinandergeworfen wird, rundet das Bild zu diesem Kommentar ab.
849 (Profil gelöscht)
Gast
Es ging um das BIP pro Kopf, nicht wahr?
Hier hatte GB (laut https://data.worldbank.org/indicator/NY.GNP.PCAP.CD?end=1980&locations=GB-DE&start=1976&view=chart) 1977 5140 USD, Deutschland 7680 USD pro Kopf.
Dass das BIP nur halb so groß gewesen sei, hat der "große Ökonom" wahrscheinlich ganz banal aus einem Artikel der NYT abgekupfert (https://www.nytimes.com/1979/07/05/archives/west-german-workers-paradise.html).
Dass der Aufschwung irgendwas mit Thatcher zu tun haben soll, widerlegt der Vergleich mit Deutschland (https://data.worldbank.org/indicator/NY.GNP.PCAP.CD?end=1990&locations=GB-DE&start=1976&view=chart), denn der Anstieg für GB verläuft ziemlich parallel zu D.
Karl Bauer15
Genau, liebe Frau Atalaya!
Es geht um das BIP, also das Bruttoinlandsprodukt, nicht um das hier von Ihnen angeführte Bruttonationaleinkommen, das in Ihrer englischsprachigen Quelle GNI, also "gross national income" heißt.
Googeln Sie einfach mal den Unterschied. Der ist hier wichtig, weil nur in dem von Ihnen verwendeten Indikator auch die Einkommen derjenigen Briten enthalten sind, die schlau genug waren, in der schlimmen Vor-Thatcher Zeit ihr Geld im Ausland zu verdienen.
Karl Bauer15
Vielen Dank für die Fakten!
Ich habe jetzt Frau Herrmanns Text noch mal gelesen, weil ich nicht glauben konnte, daß sie so einfache wirtschaftliche Zusammenhänge nicht versteht. Leider bestätigt sich jedoch ihre Unkenntnis : für sie sind Stromgrößen (BIP) und Bestandsgrößen (Volksvermögen, vulgo Reichtum) das Gleiche. Sie schreibt in ihrer anmaßenden Kritik: "Das ist so abwegig, dass es fassungslos macht". Ich glaube, daß gilt vor allem für ihren eigenen Text.
Kaboom
Sinns fachliche Reputation war spätestens mit seinem Buch "Die Basar-Ökonomie" vollkommen dahin. Das Buch heute zu lesen erzeugt - im besten Fall - Heiterkeitsanfälle, so viel Nonsens findet man darum.Das Sinn ungeachtet dieser vollkommen disqualifizierenden Publikation regelmäßig im TV auftritt, und seine geistigen Ergüsse zum Besten geben darf, düfte seine Ursache darin haben, dass er seine wirre Ideologie sehr überzeugend verkaufen kann.
Karl Bauer15
@Kaboom Sie meinen, dass er Leute davon überzeugen kann, dass seine Ideologie wirr ist? Oder meinen Sie, dass er Leser überzeugen kann, für die dann seine Ansichten gar nicht wirr sind? Im übrigen beschränken sich die Heiterkeitsanfälle auf diejenigen seiner Leser, die auch glauben, dass der Germanist Vogl besonderes ökonomisches Verständnis hat.
Dr. Robert
Die Ökonomie ist eine der schwierigsten Wissenschaften insofern sie von quasi-religiösen Prinzipien startend, mit quasi-mathematischen Schlussfolgerungen zu den Schlüssen kommt, die sie eh bereits im Sinn hatte.
Dass Sinn die "plurale Ökonomik“ "ehrlicherweise nicht als Wissenschaft" ansieht,"sondern als linke Ideologien von der angeblich richtigen Wirtschaftspolitik" ist dann von erfrischender Konsequenz.
Persönlich glaube ich, Sinn ist nur deshalb derart ins öffentliche Bewusstsein eingedrungen, weil fast jeder diese Schrecksekunde hatte, wenn sein Bart im Fernsehen auftauchte:
Muss er ein fliehendes Kinn korrigieren (Oma Florentina), hat er das mit dem Rasieren 'untenrum' nicht kapiert (Onkel Günter) oder strotzt er dermassen vor Selbstvertrauen, dass er glaubt, auch noch mit diesem Bart gut auszusehen.
Fragen über Fragen.
849 (Profil gelöscht)
Gast
@Dr. Robert Ihrem ersten Abschnitt nach zufolge ist sie gar keine Wissenschaft, sondern eine Religion.
Lowandorder
Die aber halt alle keinen Sinn machen.
Sondern nur - das macht Sinn.
kurz - Chapeau. Was ein Verriß!;)
Heiner Röger
Bei denke ich immer nur an Sinn-Krise.
In der Regel ist genau das Gegenteil dessen richtig, was Herr Sinn verkündet.
Darauf ist wirklich Verlass
Rolf B.
Dass sich Ulrike Herrmann diese Zumutung angetan hat ist bewundernswert.
Sinn hat bekanntermaßen einen Hang zu Tautologien. Als Apologet der Angebotstheorie versteht er keinen Spaß, wenn es um Löhne und Gehälter geht. Da verhält er sich wie ein Parvenü. Mich erinnert sein Auftreten an Altkanzler Schröder.
Karl Bauer15
Eine überhebliche Kritik. Wahrscheinlich ist der inkriminierte Passus über das britische Bruttoinlandsprodukt ein simpler Druckfehler, weil wohl das Wachstum des BIPs gemeint war. Das allerdings BIP von Frau Hermann so ohne weiteres mit Reichtum gleichgesetzt wird, wirft ein bezeichnendes Licht auf das Niveau des ökonomischen Verständnisses der Kritikerin.
88181 (Profil gelöscht)
Gast
Respekt, dass Sie diese Schwarte durchgeackert haben.
Volkswirtschaftslehre ist doch eher das Voodoo unter den Wissenschaften. Oder eben affirmativ neoliberal wie bei Käptn Ahab.
Lowandorder
Jau.
Empfehle zum Ende der Vorsehung
Der Markt als ”Ersatzdroge“!;)( ~>
Joseph Vogl - Der Souveränitätseffekt
dazu inne taz ~>
„Das Finanzregime ist beunruhigt“
Joseph Vogl untersucht die gegenseitigen Abhängigkeiten von Staaten und Märkten. Er analysiert die Herausbildung souveräner Enklaven als „vierte Gewalt“. http://www.taz.de/!5017253/
& https://www.perlentaucher.de/buch/joseph-vogl/der-souveraenitaetseffekt.html
& zu Populismus ders. http://www.taz.de/!5361532/
Lowandorder
Jau. Mailtütefrisch - ins Jesich‘!;)
“Mohnmoin
Was ein Verriß!;)
Wenn`s Eine kann -
dann U. Herrmann
(Bildungsaufstieg. Ja, da isser wieder.
Mit 36 können diese Schlauberger die Welt erklären -
und mit 70 haben sie die immer noch nicht verstanden. )“
Hm. Leider - leider!
Auch meine bescheidene Erfahrung.
”Kaninchen ist schlau!“ -
”Hm - deswegen versteht’s auch nichts“
Piglet & Winnie-the-Pooh!;)
88181 (Profil gelöscht)
Gast
@Lowandorder Thx, hab mir die Links neben die Koje gelegt!
Lowandorder
btw eine Reminiszenz -
Zu Schrecksekunde & Käpt’n Ahap -;) *
Nähe Frauenkirche - Beim Entern des -
Oskar Maria & Däh! Er wieselig vorm Laptop aufgeklappt - grad - klar - souverän -;) Sitzenbleibend im Verabschieden eines Eilfertigen begriffen!
& (in gut halbstündiger Einstellung) ~>
Leicht geduckt hofhaltend digitalverschnürt - auf den mächtigen Leviathan genagelt -
Äugleinnervös - zwischen der LokalTrias -
LapGlomse Haupt- & Nebeneingang.
Eulenwiesel Switschend - Sphinx -;)
kurz - Fa. Völlig Sinnfrei & Cie.
& Däh! ~>
Filmriß ~>neben ihm der Vorhang bauscht-;)
Souverän Sie ~> Wisch&Weg Käpt’n Ahap!;)
Ein Glück.
unterm——>
*beim Warten auf meine Oberprimaliebe!
•(Nö. Nix frauenfeindlich -
Nö. Zu früh!;)•
88181 (Profil gelöscht)
Gast
@Lowandorder Und der Oskar Maria Graf kann sich nicht dagegen wehren. Aber der Laden ist ja ganz nett, oder?
Lowandorder
Jau - muß wieder hin!;)
OMG - wg Ihr Daughter & kids
= 6 im Sinn!;)
Volker Birk
Ist “Deutschlands klügster Professor” also in Wirklichkeit eine Knalltüte? ;-) Na, was für eine Überraschung!
849 (Profil gelöscht)
Gast
@Volker Birk War nicht dieser abgehalfterte Quatschmeister, dessen Namen ich nicht erinnere, nicht auch der klügste Deutsche?