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Ein rettender Bote

Toon Horsten hat recherchiert, wie ein katholischer Priester die Manuskripte Edmund Husserls vor den Nazis und damit die europäische Philosophie rettete

Der Franzis­kaner Hermann Leo Van Breda, Belgien, gründete in Löwen das Husserl-Archiv Foto: Galiani

Von Micha Brumlik

In einem historisch prominenten Fall wurde der Schüler schnell berühmter als der Lehrer: Gilt doch Edmund Husserl (1859–1938) im Vergleich zu Martin Heidegger als irgendwie wichtig, aber eben doch als minder bedeutend.

Indes könnte nichts falscher sein: war doch Husserl der Begründer einer der herausragendsten Strömungen der neueren Philosophie, der „Phänomenologie“, einer philosophischen Denkrichtung, die sich gegen jede Reduktion von Denken oder gar Ichbewusstsein auf im weitesten Sinne naturwissenschaftlich erklärbare Tatsachen wehrt und der es alleine um die sachliche Geltung von Gedanken und Wahrnehmungsgehalten geht.

Edmund Husserl, ursprünglich Mathematiker, war zwar gebürtiger Jude, trat indes früh, anlässlich seiner Heirat mit Malvine Steinschneider, zum Protestantismus über, was ihm freilich – er wurde 1928 in Freiburg emeritiert – bei der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 nichts helfen sollte, galt doch seine Philosophie als „jüdisch“ und wurde verboten. Heute liegt Husserls umfangreiches Werk vor allem in einem belgischen Verlag, dem Martinus Nijhoff Verlag in Louvain, vor.

Dass dieses – ursprünglich auf schwerst lesbaren Manuskripten niedergelegte – Werk überhaupt den Zeitläuften zum Trotz überliefert und veröffentlicht werden konnte, verdankt die philosophisch interessierte Öf­fent­lichkeit einem Mann, dem deshalb gar nicht genug zu danken ist: dem 1911 in Lier geborenen und 1974 in Louvain gestorbenen Franziskanerpater Herman Leo Van Breda, dem der belgische Publizist Toon Horsten jetzt ein literarisches Denkmal gesetzt hat.

Van Breda, der 1941 an der katholischen Universität Louvain in Philosophie mit einer Arbeit über Husserl promoviert wurde, besuchte nach dessen Tod im Jahr 1938 seine Witwe in Freiburg, sichtete seine Notizen und erkannte schnell, dass dieses Werk unter den Nazis ob der jüdischen Herkunft des Verfassers in jeder Hinsicht gefährdet war.

Doch wie sollte man diese Manuskripte retten? War es 1938 überhaupt möglich, Manuskripte eines als „undeutsch“ und jüdisch verschrieenen Philosophen zu verstecken oder gar außer Landes zu bringen?

Ohne dass der Inhalt dieser Philosophie, der „transzendentalen Phänomenologie“, in irgendeiner Weise dem katholischen Glauben entgegenkam oder gar nahe stand, war es gleichwohl eine „Catholic Connection“, die dieses Werk rettete – freilich zunächst mit einem Misserfolg.

Toon Horsten: „Der Pater und der Philosoph.“ Übersetzt von Marlene Müller-Haas. Galiani Verlag, Berlin 2021, 288 S., 24 Euro

Die in ein Konstanzer Kloster gebrachten Papiere konnten anders als erhofft nicht in die Schweiz geschmuggelt werden, gab doch die Gattin des in Kreuzlingen in der Schweiz wirkenden phänomenologischen Psychiaters Ludwig Binswanger zu Protokoll, dass sie und ihr Mann auch für Hitler seien.

Nach dieser Absage packte der wagemutige Pater alle Manuskripte in drei Koffer, nahm den Nachtzug nach Berlin und deponierte das Werk dort im Tresor der belgischen Botschaft. Im November 1938 schließlich – im ganzen Reich brannten die Synagogen – gelang es dann, die Koffer mit belgischer Diplomatenpost, die nicht vom deutschen Zoll kontrolliert werden durfte – von Berlin nach Louvain zu bringen.

Aber wie die so geretteten, gleichwohl kaum lesbaren Aufzeichnungen decodieren? Van Breda und mit ihm die dortige Universität luden Husserls Schüler, Ludwig Landgrebe und Eugen Fink, ein, diese Arbeit zu übernehmen; indes wurden beide Männer – deutsche Staatsangehörige – nach Kriegsbeginn von den belgischen Behörden als feindliche Ausländer interniert, um nach der Niederlage Belgiens nach Deutschland zurückzukehren.

Gleichwohl ließ van Breda in seinem Bemühen nicht nach: So nahm der katholische Pater nach der Besetzung Belgiens durch die Wehrmacht Kontakt zum deutschen Stadtkommandanten Louvains auf: War doch Reinold von Thadden, ein Protestant, Mitglied der Bekennenden Kirche – seine Schwester Elisabeth von Thadden wurde im Jahr 1944 als Widerstandskämpferin in Berlin von einem Volksgerichtshof zum Tode verurteilt. Reinold von Thadden immerhin stellte die inzwischen in Louvain lebende Witwe Husserls unter seinen persönlichen Schutz.

Van Breda aber suchte immer wieder derlei christlich-jüdische, katholisch-jüdische Verbindungen zu beleben: vor allem zu der zum Katholizismus übergetretenen jüdischen Intellektuellen und Schülerin Husserls, Edith Stein, die trotz ihres Aufenthalts in einem niederländischen Karmeliterkloster im August 1942 in Auschwitz ermordet wurde.

Toon Horstens Chronik all dessen liest sich – der laxe Ausdruck sei gestattet – wie ein Krimi; ein Krimi freilich, der die verstörende Frage aufwirft, um wie viel mehr verfolgte Jüdinnen und Juden hätten gerettet werden können, hätte man ihnen ebenso selbstlos gedient wie der Witwe und dem Nachlass Husserls, der schließlich erschlossen im heute weltbekannten Archiv in Louvain lagert.

Toon Horsten jedenfalls charakterisiert Van Bredas Eifer durchaus kritisch: „Van Breda hatte nicht eine, sondern zwei Berufungen – Gott und Husserl. Und er dient seinen zwei Herren mit gleichem Eifer.“

Dank und Anerkennung auch der jüdischen Welt sollten nicht ausbleiben: So traf Van Breda – wie dem reichhaltigen Bildteil des Buches zu entnehmen ist – sowohl 1965 als auch 1973 die spätere israelische Premierministerin Golda Meir.

Der ebenfalls phänomenologisch orientierte jüdische Philosoph Emmanuel Levinas aber charakterisierte van Breda so: „Seine Güte und seine akademische Feinsinnigkeit manifestierten sich immer in diesem Lachen, in der Fröhlichkeit des zufriedenen Bauern, der weiß, dass er dem Teufel ein Schnippchen geschlagen hat.“

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