Arbeiten mit Autismus: Mit dem Regenradar zur Kantine
Der Autist Peter Schmidt arbeitet seit 15 Jahren in einer Pharmafirma. Der Softwarekonzern SAP, der jetzt Autisten einstellt, wollte ihn damals nicht.
Peter Schmidt wusste lange, dass er anders ist als andere Menschen. Er ist unfähig, Emotionen zu verstehen oder Gesichter zu erkennen. Sein Bedürfnis nach Planbarkeit und Stille ist ihm ein innerer Zwang. Mit Leidenschaft „sammelt“ er Straßen und fährt die großen interkontinentalen Routen ab, die Transsibirische Eisenbahn, die Seidenstraße, für die 30.000 Kilometer der Panamericana hat er sieben Reisen gebraucht. Vor vier Jahren bekam er einen Befund über sein Verhalten: Asperger-Autismus. „Ich war erleichtert“, sagt er heute.
Bis zu seiner Diagnose führte der 47-Jährige ein ziemlich normales Leben: Er hat Geophysik studiert, über Vulkane auf Hawaii promoviert, lebte mit seiner Frau und den zwei Kindern im niedersächsischen Lahstedt. Bei einem Pharmakonzern in Frankfurt, wo er jetzt seit 15 Jahren arbeitet, hat er als Programmierer Karriere gemacht.
Doch oft wunderte er sich über die Welt, die ihn umgab. Und die Welt wunderte sich über ihn. In seinem Büro ordnete er das Obst in Rastern an, jeden Gang in die Kantine plante er mit einem Niederschlagsradar, um nicht nass zu werden. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Und Schmidt kam nicht mit den Fallstricken der Diplomatie in einem Großkonzern klar, für die der Autismus ihn blind macht.
Mit der Diagnose bekamen seine Schwierigkeiten eine Erklärung. Es war die Software von SAP, Europas größtem Softwarekonzern, für die der Autist Schmidt Experte wurde und die es ihm erlaubte, eine normale Karriere zu machen. Die Kollegen hielten ihn für einen Nerd.
Immer noch Exot, aber akzeptiert
Nach der Diagnose wurde Schmidt zum Pionier: Er entschloss sich zu einem Coming-out und wurde der erste bekennende Autist in einem deutschen Großkonzern. Jetzt steht in seiner Personalakte der Zusatz „schwerbehindert“. Einem Kollegen fiel damals der Bleistift aus der Hand, erinnert sich Schmidt. Noch immer ist er der Exot in der Firma, aber er ist jetzt akzeptiert.
Sein Arbeitgeber käme nicht auf die Idee, gezielt autistische Mitarbeiter wie ihn einzustellen. In Walldorf bei SAP sind sie weiter. Der Softwarekonzern glaubt, dass die speziellen analytischen Begabungen von Autisten gut zur Entwicklung ihrer Software passen. Deshalb soll im Jahr 2020 1 Prozent der Mitarbeiter von SAP das Asperger-Syndrom haben.
Personalchefin Luisa Delgado begründet das so: „Nur wenn wir Menschen einstellen, die anders denken und Innovationen ausstrahlen, wird SAP darauf vorbereitet sein, die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu meistern.“ Sechs Asperger-Autisten testen im indischen Bangalore schon jetzt Software für den Konzern.
6 von 65.000 Angestellten, das klingt nicht nach viel. Doch für autistische Menschen ist das ein großer Schritt. Viele Kinder mit Autismus werden in Sonderschulen unterrichtet, die Arbeitslosenquote unter erwachsenen Autisten ist hoch. Schmidt, der über sein Leben das Buch „Ein Kaktus zum Valentinstag“ geschrieben hat, hat andere Autisten getroffen. Doch ob Schuldirektor oder Abteilungsleiter, die meisten, so seine Erfahrung, behalten die Diagnose für sich.
Dieser Artikel stammt aus der taz.am wochenende vom 25./26. Mai 2013. Darin außerdem: Ein Gespräch mit Daniel Ellsberg, der während des Vietnam-Kriegs die "Pentagon Papers" veröffentlichte. Und: eine Reportage über über einen Mann, der zur Adoption freigegeben wurde und zwei Jahrzehnte später seine Mutter sucht. Außerdem klingelt die taz mal wieder an fremden Türen – diesmal in Berlin. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im Wochenendabo.
Zweimal nicht eingestellt
Für Schmidt kommt der SAP-Vorstoß 15 Jahre zu spät. Damals hatte er sich zweimal bei SAP beworben. Zweimal wurde er eingeladen, beide Male hat er den Job nicht bekommen. Im persönlichen Gespräch konnte er nicht überzeugen. Gespräche mit Schmidt sind eigen, weil er manchmal in einen nicht endenden Redefluss gerät und die emotionalen Reaktionen seines Gegenübers nicht zu deuten vermag.
Tatsächlich ist das autistische Spektrum sehr breit. Es gibt Kinder, die ganz in sich gekehrt leben. Und es gibt Asperger-Autisten, denen es schwerfällt, emotionale Äußerungen wahrzunehmen. Manchmal geht Autismus auch mit einer geistigen Behinderung einher oder mit außergewöhnlicher Intelligenz wie bei Peter Schmidt. „Die Autisten, an die SAP denkt, sind die mit hohem intellektuellem Niveau“, sagt er. „Wer weiß, vielleicht sitzen in der Softwareentwicklung längst ein Prozent Autisten?“
Heute sagt Schmidt: „Die Software von SAP war für mich das Trittbrett für die Karriere.“ Denn das SAP-System ist eine hochkomplexe, abgeschlossene Welt aus Zahlen und Prozessen, die für normal denkende Menschen kaum zu durchdringen ist. Für Schmidt hat der Firmenname SAP eine ganz eigene Bedeutung: „Software autistischer Programmierer“, nennt er lachend das Unternehmen.
Er hat für seinen Arbeitgeber ein SAP-Modul zum Umweltmanagement mitentwickelt. „Ich habe alle Prozesse in dem Bereich auf SAP umgestellt“, erzählt er. SAP veröffentlichte über die Zusammenarbeit mit Schmidt Erfolgsgeschichten. Doch seine Kollegen empfanden sein Vorgehen bei der Einführung wie eine Dampfwalze.
Es wird für SAP eine Herausforderung sein, die Mitarbeiter mit Autismus nicht nur als menschliche Computer einzusetzen, sondern sie als Kollegen zu integrieren. SAP arbeitet mit „Specialisterne“ zusammen, einem dänischen Sozialunternehmen, das Autisten in Arbeit bringen will. Mitarbeiter mit Autismus haben ganz eigene Bedürfnisse. Schmidt beschreibt sie so: „Ich brauche ein Einzelbüro, Großraumbüros ertrage ich nicht. Und keinesfalls dauerhaften Projektdruck.“ Auch flexibel sind Menschen mit Autismus eher nicht, sie bevorzugen gewohnte Abläufe. Trotzdem sollte man nicht den Fehler machen, sie zu unterschätzen, betont Schmidt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit
Streit in der SPD über Kanzlerkandidatur
Die Verunsicherung
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Biden genehmigt Lieferung von Antipersonenminen
BGH-Urteil gegen Querdenken-Richter
Richter hat sein Amt für Maskenverbot missbraucht