Antisemitismus unter Migranten: Mehr Fragen als Antworten
Wie weit ist der Antisemitismus unter den Muslimen in Deutschland verbreitet? Wissenschaftliche Befunde zu dieser Frage stehen leider noch aus.
BERLIN taz | Eine Gruppe von überwiegend muslimischen Kindern und Jugendlichen arabischer Herkunft bewirft eine jüdische Tanzgruppe bei einem Stadtteilfest in Hannover mit Steinen. Der Vorfall im Juni 2010 hat - zu Recht - für große Aufregung gesorgt.
Wie weit verbreitet ist Antisemitismus unter Muslimen? Diese Frage hat sich auch der "Unabhängige Expertenkreis Antisemitismus" in seinem ersten Bericht gestellt. Doch eine Antwort vermögen die zehn Autoren nicht zu geben: "Bis heute fehlen für Deutschland belastbare wissenschaftliche Befunde über die tatsächliche Verbreitung antisemitischer Stereotype unter Muslimen."
Die von Muslimen ausgehenden antisemitischen Übergriffe seien laut Statistik jedenfalls "vergleichsweise marginal". Mehr als 90 Prozent aller antisemitischen Straftaten würden von Tätern aus dem rechten Spektrum begangen.
Der Expertenkreis stellt in dem Zusammenhang eine interessante Frage: Ob nämlich die zunehmende mediale Fokussierung auf den angeblich weit verbreiteten Antisemitismus unter Muslimen nicht eine "Verdrängung der Auseinandersetzung mit antisemitischen Stereotypen in der Mehrheitsgesellschaft" befördere.
Anders sieht es in dezidiert islamistischen Milieus aus, zu denen in Deutschland aber nur rund 35.000 Menschen gezählt werden. Hier benennen die Experten die eindeutig antisemitischen Überzeugungen, die zu einem der Wesensmerkmale des Islamismus gehören: von der Verschwörungstheorie eines "geheimen Weltstaats" der Juden, der die Wall Street kontrolliert, bis zur Legitimation von Anschlägen gegen die "Zionisten".
In "einem nicht unerheblichen Umfang" gerate heute antisemitische Propaganda auch über türkische, libanesische, palästinensische und iranische Medien nach Deutschland, heißt es in dem Bericht.
Als Beispiele werden der nach wie vor über manche Satelliten zu empfangende Hamas-Sender "Al-Aqsa-TV" und der Hisbollah-Sender "Al-Manar-TV" genannt oder auch der Sender "Islamic Republik of Iran Broadcasting". Deren "Politik des Hasses vergiftet auch muslimische Gemeinden in Deutschland", schreiben die Experten. Wie groß der Einfluss der Sender genau ist, lasse sich aber nicht sagen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Krieg in der Ukraine
„Weihnachtsgrüße“ aus Moskau