Die Kanzlerin und die "Südländer": Mit Merkel am Ballermann
Mit ihrer Pauschalkritik hat die Bundeskanzlerin Stammtischniveau erreicht. Was macht es da schon, dass die Fakten eine ganz andere Sprache sprechen.
Die Stammtischhoheit ist Bundeskanzlerin Angela Merkel mit dieser Aussage gewiss: "Wir können nicht eine Währung haben, und der eine kriegt ganz viel Urlaub und der andere ganz wenig", sagte sie am Dienstag. Es gehe nicht nur darum, keine Schulden zu machen. "Es geht auch darum, dass man in Ländern wie Griechenland, Spanien, Portugal nicht früher in Rente gehen kann als in Deutschland, sondern dass alle sich auch ein wenig gleich anstrengen - das ist wichtig."
Geliebte Vorurteile, da seid ihr wieder. Das spricht Otto Normalverbraucher so richtig aus der Seele. Darauf kann es - auch wenn dies nicht höflich ist - nur eine Antwort geben, nämlich den Schlachtengesang, den Fußballfans verhassten Sportreportern gern entgegensingen: "Und wieder mal keine Ahnung, was hier läuft."
"La Merkel" - wie sie auf der Iberischen Halbinsel umgangssprachlich und damit familiär, liebevoll genannt wird - täte gut daran, sich etwas genauer zu informieren. Schließlich war sie es, die einst in ihrem Wahlkampf gegen einen gewissen Gerhard Schröder ausgerechnet Spanien als Beispiel für eine Wachstumspolitik hinstellte, wie sie die CDU auch für Deutschland anstrebe.
Es war mitten im Bauboom. Merkels konservativer Gesinnungsgenosse José María Aznar, der das Land in den Irakkrieg geführt hatte, regierte. Die Spekulationsblase schuf vermeintlichen Reichtum für alle. 1.000 neue Arbeitsplätze entstanden am Tag. Wer darauf verwies, dass dies keine nachhaltige Entwicklung sei, wurde müde belächelt, auch von der CDU.
Protest statt Sangria
Jetzt, wo die Spekulationsblase geplatzt ist, zahlen die, die schon immer zahlen. Spanien hat 20 Prozent Arbeitslose, unter jungen Menschen ist die Quote mehr als doppelt so hoch. Nicht etwa, dass die "faulen Spanier" nicht arbeiten wollen und lieber der Siesta und der Sangria frönen. Das ist eher die Lieblingsbeschäftigung vieler deutscher Strandurlauber und Ballermannbesucher. Nein, sie finden keinen Job. Unter anderem deshalb gehen die Menschen dieser Tage zu Zehntausenden überall im Land auf die Straße und haben ein Protestcamp auf dem zentralen Platz Madrids, der Puerta del Sol, errichtet.
Spaniens Jugend leidet unter einer Politik, die völlig versagt. Und daran sind nicht allein die seit sieben Jahren regierenden Sozialisten unter José Luis Rodríguez Zapatero schuld. Auch die konservativen Freunde Merkels, der ehemalige Premier Aznar, der für das Boomwachstum verantwortlich zeichnete, und sein Nachfolger an der Spitze der Partido Popular (PP), Mariano Rajoy, den Merkel wohl gern an der Regierung sähe, haben ihren nicht ganz unwesentlichen Teil dazu beigetragen.
Das Schul- und Universitätssystem ist nicht auf der Höhe Europas. Nicht etwa weil die spanische Jugend lernunwillig ist. Sondern wegen der Politik der Konservativen.
Als es Spanien gut ging, wurden die Ausgaben für Bildung und Forschung nicht angehoben. Das ist nicht nur ein Problem für die Wettbewerbsfähigkeit des Landes, sondern auch für die jungen Akademiker. Viele von ihnen arbeiten mittlerweile im Ausland. Auch Bundeskanzlerin Merkel umwirbt sie.
Niedrige Produktivität? Kann nur Faulheit sein
Wer zu Hause einen Job findet, verdient oft unter 1.000 Euro. Zudem ist in keinem Land Europas die Quote von prekären, zeitlich befristeten Verträgen so hoch wie in Spanien. Viele der Arbeitsplätze, die geschaffen wurden, als Merkel Spanien lobte, waren solche prekären Arbeitsverhältnisse. Es ist das Lieblingsmodell der Bundeskanzlerin für Europa, das jetzt gescheitert ist.
Ach ja, und zur Rente und zum Urlaub: Die Spanier gehen, wie wir Deutschen auch, künftig mit 67 Jahren in den Ruhestand. Verdienen müssen sie sich ihn laut Eurofund mit durchschnittlich 1.752 Arbeitsstunden pro Jahr und 22,8 Tagen bezahltem Urlaub. Die fleißigen Teutonen arbeiten 1.658 Stunden im Jahr und genießen 30 Tage Urlaub.
Warum die Produktivität Spaniens dennoch niedriger ist als die Deutschlands? Ob das vielleicht etwas mit mangelnder Investitionsbereitschaft der Unternehmer, schlechten Arbeitsverträgen und ungenügender innerbetrieblicher Fortbildung zu tun hat? Nein, Frau Merkel, das will am Stammtisch nun wirklich niemand hören. Spanier sind faul! Prost.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind