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Neues Album von Mary OcherSehnsucht aus der Meerestiefe

Sarkastisch, wild und wuchtig: Die in Russland geborene und in Tel Aviv aufgewachsene Musikerin Mary Ocher und ihr fabelhaftes neues Album „Eden“.

Auch ohne Riesenbrille eine Erscheinung: Mary Ocher. Bild: Hadas Hinkis

Der Titel von Mary Ochers neuem Album „Eden“, das Paradies, ist irreführend. Man mag fast annehmen, sie hat seit ihrem Debüt „War Songs“ eine Art innere Ruhe gefunden, doch auch den neuen Songs fehlt es nicht an kritischer Wucht gegen Fremdenhass, Abgrenzung, Gier.

Aus reinem Sarkasmus habe sie sich für den widersprüchlichen Titel entschieden, denn nach wie vor beschreibt und beanstandet Ocher eine Welt, fern von jeglichem Frieden oder biblischer Harmonie. „In my town, no harm is caused unless you’re foreign / Or if you’re limp or slightly plump“, singt sie in dem Song „My Town“. Damit beschreibt Mary Ocher ihre zweite Heimat: Israel.

Von Tel Aviv nach Berlin

Mary Ocher

Tel Aviv: 1986 in Moskau geboren und in Tel Aviv aufgewachsen, zieht es sie 2007 nach Berlin.

Berlin: Hier wohnt sie in verschiedenen Hausprojekten, tritt in Clubs auf - solo oder mit Band, manchmal als DJ - und hat sich mittlerweile einen festen Platz im musikalischen Nachtleben ihrer Wahlheimat erspielt.

Werk: 2011 erscheint ihr Soloalbum "War Songs"; schrille, ironische, eigenwillige Protestsongs. Nun veröffentlicht sie am 14. Juni ihr zweites Werk "Eden" beim Hamburger Label Buback.

Anfang der Neunziger, als sie mit ihren Eltern von Russland nach Tel Aviv auswanderte, sah sie sich einer latenten Diskriminierung ausgesetzt. Später richtete sich diese oft gegen andere Gruppen, doch in einer Gesellschaft mit grundsätzlich ethnizistisch aufgeladenen Konflikten wollte sie nicht ewig bleiben. Heute sitzt die Musikerin artig an einem Kiosktisch in Friedrichshain und erzählt, wie sie 2007 nach Berlin emigrierte, mit wenig mehr als einem Koffer voll Antikriegssongs und ihrer frisch gegründeten Band Mary & The Baby Cheeses im Schlepptau. Damals kannte in der deutschen Hauptstadt niemand die 21-Jährige.

Während die Cheeses nach und nach entmutigt in die Heimat zurückkehrten, bohrte sich Mary Ocher beharrlich den Weg in die Berliner Subkultur: Selbst die kleinste Off-Bühne hat die Wasserstoffblondine mit der überdimensionierten Brille heute mindestens einmal bespielt. „Mir ist keine andere Strategie eingefallen, um sicherzugehen, dass man mich irgendwann bemerkt“, sagt sie. „Es heißt, zum Weiterkommen sei es notwendig, die richtigen Leute zum richtigen Zeitpunkt kennenzulernen. Ich dachte mir, so ein Glück werde ich nicht einfach haben.“

Also spielte sie, so oft und an so vielen Orten wie nur möglich. Nach drei Jahren Konzertmarathon wurde das Indie-Label Haute Areal auf sie aufmerksam. Anfang 2011 erschien ihr Debütalbum „War Songs“. Es zahlte sich aus, dass sie das Aufgeben nie als Option wahrgenommen hatte: Ihr Werk aus wehmütigen und punkig bissigen Folksongs wurde getragen von ihrem facettenreichen, kraftvollen Gesang. Die Musik machte sie schnell zum neuen Stern am glitzernden Undergroundhimmel. „Ich sehe für mich in der Gesellschaft keine andere Rolle als die der Musikerin“, sagt Ocher schlicht über ihre Beharrlichkeit.

Gehasste Blockflöte

Und das ist ihr bereits sehr früh klar geworden. Es ging als Kind mit einer Blockflöte los. „Ich hatte fünf Jahre Unterricht. Aber ich habe es gehasst.“ Und zwar nicht wegen des Instruments, wie sie betont, sondern wegen der Lehrerin: „Sie verkörperte diese konservative Idee, wonach entschieden wird, was gute oder gar richtige Musik ist.“ Formale Fußfesseln, das widerstrebte Mary zur Gänze.

Mit elf beendete sie den quälenden Flötenunterricht und erklärte sich fortan zur Autodidaktin, weil ihr „nichts anderes übrig blieb“. Sie brachte sich selbst Gitarre und Klavier bei, schrieb die ersten Songs. Und „wie durch ein Wunder“ fiel ihr das alles „sehr, sehr, sehr leicht“. So klingt auch ihre Stimme, während sie spricht: zart, klirrend und unheimlich kostbar. Pragmatismus gehöre nicht zu ihrer Natur, sagt sie.

Doch sie muss früh feststellen: „Es hilft dir keiner, solange du dir nicht selbst hilfst.“ Auch von der allgegenwärtigen pessimistischen Grundeinstellung, man solle seine Träume und Ziele nicht zu hoch stecken, will sich Ocher nicht unterkriegen lassen. Lieber konzentriert sie sich auf die Details, das Momentane, das Unmittelbare, während sie sich Schritt für Schritt den übergeordneten, aus der Ferne unerreichbar wirkenden Zielen nähert. Beispielsweise der Weltherrschaft, wie sie selbstironisch auf ihrer Webseite ankündigt.

Neue Freunde

Auf ihrer Reise holt sie immer wieder neue Freunde mit ins Boot und steuert selbstbewusst fremde Häfen an: Mary Ocher schreibt Gedichte, kollaboriert mit Bands, gründet eine neue – Your Government – mit zwei Schlagzeugern, begleitet musikalisch Theaterstücke und Literaten auf Tour, dreht Videoclips und experimentelle Filme.

Ihre Mockumentary „The Sound of Softness“ über eine fiktive Avantgardebewegung der Siebziger mit Gastauftritten von Mitgliedern der echten Bands Malaria!, Cluster oder Einstürzende Neubauten, ist gerade kurz vor seiner Fertigstellung. Und ihr neues Soloalbum „Eden“, das in Kürze erscheint, produzierte niemand geringerer als King Khan, jener legendäre Garage-Punk-Psychedelic-Rock-’n’-Roll-Guru aus Kanada, der 2005 nach Berlin zog und Mary Ocher nach einem ihrer berüchtigten Auftritte unter seine Fittiche nahm.

Im Wohnzimmer-Studio

Über anderthalb Monate trafen sie sich regelmäßig in King Khans Moon Studios, einem „gigantischen Wohnzimmer, voll mit alten Gitarren, Büchern, Filmen, Tarotkarten und esoterischem Freak-out-Stuff an den Wänden“, so Ocher. Die meisten Songs hatte sie bereits geschrieben, nur auf der klanglichen, instrumentalen Ebene stand noch alles offen. „Wir haben einfach losgelegt, mit allen möglichen Instrumenten und verschiedenen Mikrofonen experimentiert, ohne vorher genau zu wissen, wie es am Ende wird.“

Ihr Debütalbum „War Songs“ etablierte sich als stilles, schlichtes Werk, konzentriert auf Gitarre, Klavier und Gesang, und verleitete dazu, Mary Ocher in der Traditionslinie nordamerikanischer Singer-SongwriterInnen der Sechziger zu verorten. In „Eden“ gesellen sich nun Cello, Zither und Synthie dazu.

Psychedelische Spielereien und Soundeffekte erweitern den Tonraum und schaffen den Eindruck, man begebe sich auf eine Zeitreise zu obskuren Vorzeiten. Mal verschiebt und multipliziert sich Mary Ochers Stimme auf mehrere Spuren, mal türmt sie sich zu einer Art weiblichem Urchor.

Ätherisch oder rockig

Gesanglich experimentiert Ocher mit verschiedensten Techniken: von ätherischem Zischen oder rockigem Fauchen bis hin zu chinesischen Opernpassagen und tibetanischen Kehllauten ist alles dabei. Spätestens wenn ihre Stimme mit den schrillen Saitenklängen einer Gitarre verschmilzt, kommen einem Ulysses’ verhängnisvolle Sirenen in den Sinn.

Auf die Frage, wozu Mary Ocher mit all dem Aufwand ihr Publikum verführen möchte, lässt sie ihre Fingerkuppen in der Luft kreisen und grinst verschmitzt: „Wenn der Masterplan aufgeht, werden die Leute aufhören, schlechte Musik im Radio zu hören.“ Darauf lässt sie die Hände in ihren Schoß fallen – zurück in ihre freundlich unaufgeregte Haltung: „Ich stehe mit Popkultur ständig auf Kriegsfuß. Die ganze Gesellschaft bewegt sich zielsicher in die falsche Richtung. Aber anscheinend will sie das so, und sich als Prophetin aufzuführen, hilft auch nichts.“

„The Android Sea“, der wahrlich melancholischste Song des neuen Albums, handelt tatsächlich von einer Sirene, deren Reize wirkungslos bleiben, die unerhört und ungeliebt als Meerschaum endet. Untermalt von aquatischen Akkorden, die klingen, als würden sie aus der Tiefe eines vereisten Meeres emporsteigen, singt Ocher: „A thousand dreams are haunting me /Like walking on a thousand knives“. Christian Andersens Figur „Die kleine Meerjungfrau“ lässt grüßen.

„Das war wohl eher unbewusst“, sagt Ocher. „Ich habe erst später gemerkt, dass der Songtext eine Adaption von Andersens Märchen ist. Als ich ein Kind war, haben mir meine Eltern die Geschichte oft erzählt. Ich habe sie immer gemocht, diese tragische Figur, die etwas will, das sie nie erreichen kann.“

■ „Eden“ (Buback/Indigo). Live: 6. 6., Urban Spree, Berlin. Tour wird im Juli fortgesetzt

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