Debatte Religion und Terrorismus: Die rechristianisierte Republik
Der Koran hat mit dem islamistischen Terror so viel zu tun wie die Bibel mit Auschwitz. Die Quelle der Gewalt liegt in den realen Verhältnissen.
I m Gegensatz zu Frankreich werden in Deutschland gesellschaftliche Prozesse gern in ein religiöses Idiom umgegossen. Dafür gibt es Vorläufer. Schon zu Zeiten Konrad Adenauers in der frühen Bundesrepublik finden wir eine markante Verschiebung in der politischen Nomenklatur. Die „Verfolgten des Nazi-Regimes“ repräsentierten sich in Ost und West als eine diverse Gruppe von Juden, Kommunisten, Sinti und Roma und anderen Verfolgten. Doch im Milieu des Kalten Krieges und der Rechristianisierung in der Bundesrepublik reduzierte sich der Verfolgtenstatus alsbald auf die jüdischen Opfer.
Ob gewollt oder nicht, waren Juden zwar als rassische Kategorie verfolgt worden, doch in der Adenauerzeit wurden sie nun als „Volk Gottes“, also als eine religiöse Gemeinschaft adressiert. Dieses Muster sollte sich wiederholen.
Zur Zeit der „Gastarbeiter“ in den 1960er Jahren und auch später waren Türken in Deutschland: Türken. Erst seit 9/11 und nicht zuletzt auch aufgrund des Regimewechsels in der Türkei hat das religiöse Idiom das ethno-nationale abgelöst. Nun sind Türken Muslime. Diese semantische Verschiebung ist nicht zu unterschätzen. Zuvor konnten sich die Mehrheitsdeutschen im Zusammenhang mit „Türken“ zwar über die PKK und das Kopftuch erregen.
geboren 1944, ist emeritierter Soziologieprofessor der Universität von Toronto, Autor zahlreicher Bücher über Juden in Deutschland nach 1945 und selbst Mitglied der Jüdischen Gemeinde zu Berlin.
Doch nun, da „Türken“ zu „Muslimen“ geworden sind, werden sie global assoziiert mit islamistischen Attentätern und Terroristen, von New York über London bis hin nach Syrien und dem Sudan. Damit wurde die Idee von der Islamisierung der deutschen Gesellschaft wie etwa bei Thilo Sarrazin oder AfD auch in Deutschland massenfähig und demagogisch einsetzbar, als Kernbegriff im jüdisch-christlichen und abendländischen Diskurs. Es entstand die Frage nach der Verbindung von Islam und Islamisten.
Der Bilderkrieg
Vom Focus bis zur Zeit fragte man sich auch im Anschluss an das Attentat gegen Charlie Hebdo besorgt, ob der islamistische Terror nicht doch etwas mit dem Islam zu tun habe, und rief nach einem islamischen Luther. Wenn schon nicht die Welt, so könnte doch wenigstens der Islam am deutschen Wesen genesen. Genauso könnten wir fragen, ob nicht Auschwitz etwas mit dem Christentum zu tun hat, und zwar mit oder ohne Luther. Angemessen wäre es zu diskutieren, ob die dem Nazi-Hetzblatt Der Stürmer ähnlichen, orientalisierenden Karikaturen des Propheten Mohammed, die 2006 zunächst von Jyllands Posten publiziert wurden und in Europa in einem obsessiven Bilderkrieg verbreitet werden, ein Problem sind. Sind diese Karikaturen nicht auch eine Form von Gewalt?
Stellen wir uns vor, Muslime in Deutschland würden Jesus in einer obszönen Pose darstellen, oder wie wäre es mit Witzen über Auschwitz oder einer aktualisierten Wiederauflage des Stürmers? Da wäre doch auch für viele Freie-Meinungs-Äußerer der Spaß zu Ende. Vergessen wir nicht, dass antisemitische Witze und Ähnliches in der arabischen Welt gang und gäbe sind, doch das legitimiert keine antimuslimische Hetze in Europa. Bezeichnend ist, dass die Mohammed-Karikaturen zu Zeiten erhöhter antiislamischer Stimmungen erschienen – nämlich zunächst unter der rechtslastigen Rasmussen-Regierung in Dänemark. Satire hört dort auf, wo Hetze beginnt.
Natürlich haben die spezifischen Ausdrucksformen dieser suizidalen islamistischen Gewalt mit dem religiös-kulturellen Umfeld des Islams zu tun, so wie Auschwitz ohne das Christentum und israelische Siedlungspolitik ohne das Getto nicht voll zu deuten sind. Aber durch den Koran erklären lässt sich dieser Terror nicht. Das Gleiche gilt für das Neue Testament oder die Thora.
Die wirkliche Erklärung für den islamistischen Terror liegt stattdessen in den real existierenden Verhältnissen: den repressiven, autoritären, verkrusteten Strukturen fast aller arabischen Länder, ein Immobilismus, der nicht zuletzt auch aufgrund ihrer Kolonialisierung durchs westliche Abendland besteht und einen wirklichen Arabischen Frühling, also Demokratisierung, fast überall verhindert.
Da stirbt König Abdullah von Saudi-Arabien, begleitet von tiefem Mitgefühl seitens der Kanzlerin und gepriesen von Präsident Obama als ehrlicher und mutiger Führer – ein Land, in dem Bürgerrechte vor allem für Hunderttausende Gastarbeiter mit Füßen getreten und ein Blogger mit tausend Peitschenhieben in wöchentlichen Raten zu Tode gebracht werden soll. Obama wird zu einem Kondolenzbesuch anreisen. Dieser interne Terror, vom Westen weitgehend ignoriert, geht also zunächst einmal von den reaktionären Staaten der arabischen Welt aus und erst danach von Milizen wie dem IS, über dessen Brutalität wir sattsam informiert worden sind.
Kniefall vor Saudi-Arabien
Weiterhin ist der islamistische Terror nicht erklärbar ohne die gewalttätigen Interventionen des Westens: ohne den Umsturz Europa- und USA-feindlicher Regime, allen voran George Bushs Krieg gegen den Irak und eine erschreckend einfältige und desaströse Politik danach unter Obama. Nicht ohne US-Drohnen, vermittels deren unschuldige Zivilisten als Kollateralschaden wie Ungeziefer mit lokalen Kämpfern zusammen vernichtet werden.
Oder nehmen wir das nicht enden wollende Schauspiel in Israel, wo Palästinenser an Grenzposten schikaniert und gedemütigt werden, wo wie in Silwan nahe Jerusalem und anderswo die israelische Landnahme Haus um Haus betrieben wird, von den vielen toten Zivilisten in Gaza nicht zu reden. Diese Erfahrungen oder Nachrichten aus der globalisierten Ferne werden noch konkreter durch rassistische Diskriminierung zu Hause in Frankreich, Deutschland und andernorts, sei es in der Job- und Wohnungssuche oder durch individuelle Erfahrungen mit der Polizei. Das alles hat mit Religion, egal welcher, nicht viel zu tun.
Die Philosophin Seyla Benhabib bringt es auf den Punkt: „Nicht Frömmigkeit oder Unfrömmigkeit müssen wir verstehen, sondern die Quellen muslimischer Wut und Verzweiflung müssen wir entziffern, denn Wut und Verzweiflung werden weiterhin neue angreifbare Bilder finden, bis deren Ursprünge verheilt sind.“
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