Kinderheime in Westdeutschland: Wie in Sibirien
500.000 Kinder saßen in der frühen Bundesrepublik in kirchlichen Heimen. Der Film „Und alle haben geschwiegen“ erzählt ihre Geschichte.
Luisa ist sich ganz sicher: „Wenn meine Mutter aus dem Krankenhaus raus ist, dann fahre ich wieder nach Hause. In drei Monaten ist das hier vorbei!“ Das 16-jährige Mädchen ist gerade in ein Heim der Kirche gekommen, und sie erfährt auf grausame Weise, wie schnell sich ein Leben von „noch vor sich“ in „quasi beendet“ verwandeln kann. Der Zuschauer hingegen mag es nur sehr langsam verstehen. Denn er stimmt Luisa zu: Das kann doch gar nicht sein, dass das Mädchen jetzt nicht mehr lernen darf und die ganze Zeit geschlagen und gedemütigt wird.
Doch, es kann. Die Szene wird in Variationen gespielt. Jedes Mal schütten sich die anderen Mädchen vor Lachen aus: „Du bleibst hier bis du 21 bist.“ Die Kinder- und Erziehungsheime, meistens von den beiden Kirchen in Westdeutschland betrieben, waren Lager, Zwangsanstalten, sogar ein Arbeitslager gab es, das man sich eher in Sibirien vorstellen kann als im Deutschland der 1960er Jahre.
Der Film „Und alle haben geschwiegen“ von Dror Zahavi bringt die Geschichte nun an ein Millionenpublikum, und man darf gespannt sein auf die politischen Folgen. Denn es ist eine verdrängte Geschichte. Aufgeschrieben hatte sie Peter Wensierski in seinem Buch „Schläge im Namen des Herren“, das 2006 erschien und das vergessene Schicksal von 500.000 Kindern im demokratischen Deutschland erzählt. Wensierski hatte einen langen Brief eines ehemaligen Heimkindes bekommen und darüber einen Text im Spiegel geschrieben – danach überrollte ihn eine Lawine von Briefen zerbrochener Lebensgeschichten.
So ähnlich wird es wahrscheinlich heute Abend wieder sein. Obwohl das Team um Alicia von Rittberg, Leonard Carow sowie Senta Berger und Matthias Habich nur eine geschönte Version der Heimkinder herstellen. Das ist schlecht und das ist gut – weil es zum wiederholten Mal der zertrümmerten Identität der Heimkinder nicht gerecht wird; weil es aber zeigbar wird. „Wir wollten in die Primetime damit“, sagt die Produzentin Doris Zander. 20.15 Uhr im ZDF ist Zeit für Bildungsfernsehen und nicht die Zeit der Racheengel für ein nationales Trauma.
Die Unentrinnbarkeit des Lagers
Gelungen ist Drehbuch und Regie, die Unentrinnbarkeit des Lagers abzubilden. Ständig piept beim Zuschauer der Rechtsstaats-Notruf: Ruf doch mal jemanden an – und dann ist der Spuk vorbei.
Der Film ist an manchen Stellen vielleicht zu holzschnittartig und erwartbar. Er bringt dennoch in wohnzimmertaugliche Bilder, was einem heute fremd erscheint: dass eine 16-jährige Einserschülerin aus Berlin plötzlich 10 Stunden am Tag in der Wäscherei schuften muss, „weil die Beschulung einzustellen ist“, wie es im Jugendamtsdeutsch heißt. Das Ziel des Erziehungsheimes war es, so die Propaganda der Kirchen, tüchtige und gottesfürchtige Menschen aus den Kindern zu machen, deren Eltern im Krieg geblieben oder einfach mal nur für ein paar Monate unabkömmlich waren. Der eher im Scherz gesagte Satz „… sonst kommst du ins Heim!“, hatte damals eine flirrende Bedeutung – obwohl er doch so eindeutig ist.
Für Senta Berger war das ein Grund mitzuspielen, wie sie sagt. Und es ist gut, dass zwei so prominente und herausragende Schauspieler wie sie und Matthias Habich sich diesem Thema stellten. Die Heimkinder, heute meist in ihren 60ern, empfinden es als Genugtuung, dass ihre Biografien es wert sind, von einer Berger gespielt zu werden.
Das Kapitel Heimkinder in Deutschland ist noch lange nicht zu Ende geschrieben. Es gab einen runden Tisch für die Westheimkinder, nun kommt der Film. Wissenschaftlich historisch dokumentiert ist noch viel zu wenig. Die Ostheimkinder warten noch gänzlich auf ihre Anerkennung. Auch da haben alle geschwiegen. Und schweigen weiter.
Und alle haben geschwiegen, ZDF, 20.15 Uhr
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Tabubruch der CDU
Einst eine Partei mit Werten
Jugendliche in Deutschland
Rechtssein zum Dazugehören
Jens Bisky über historische Vergleiche
Wie Weimar ist die Gegenwart?
Krieg und Rüstung
Klingelnde Kassen
Mitarbeiter des Monats
Wenn’s gut werden muss
Social-Media-Star im Bundestagswahlkampf
Wie ein Phoenix aus der roten Asche