Journalistenverfehlungen in Winnenden: Weiterfragen statt wegrennen
Die Berichterstattung von Amokläufen ist davon getrieben, Lösungen zu präsentieren. Den Druck geben die Medien an die Betroffenen weiter.
„Es ist Wahnsinn, hier blinken die Lichter. Es heißt sogar, dass der Täter hier vor Ort noch um sich springen könnte. Man hat nicht erwarten können, dass ein solches Großereignis hier heute eintritt. Es ist hier ein Chaos vom Feinsten!“
Mit diesen Worten wurde eine Reporterin der Sendung „RTL Punkt 12“ 2009 unfreiwillig berühmt. Die plastische Wortwahl war fehl am Platz, denn das „Großereignis“, über das sie zu berichten hatte, war ein Amoklauf. 15 Menschen, darunter acht Schülerinnen und ein Schüler der Albertville-Realschule, erschießt der 17-jährige Tim K. an diesem Tag in der schwäbischen Kreisstadt Winnenden. Nach einer stundenlangen Flucht tötet er schließlich auch sich selbst.
Der Aufsager – so heißen im TV-Sprech die live eingesprochenen Berichte, die dem Zuschauer den Eindruck vermitteln sollen, der Sender sei ganz nah dran am Geschehen – der RTL-Frau war der Johannes-B.-Kerner-Moment von Winnenden. Sieben Jahre zuvor hatte der in einer Live-Sendung zum Amoklauf von Erfurt penetrant einen Zeugen befragt, der gerade mal elf Jahre alt war.
Dass der „Chaos vom Feinsten“-Beitrag im Mittagsfernsehen auf so groteske Weise misslang, könne man nicht allein der Korrespondentin ankreiden, sagt Karl N. Renner, Professor für Fernsehjournalismus an der Uni Mainz. „Man muss hier die Mechanismen des Journalismus im Zusammenhang betrachten.“ Zu Beginn des Beitrags habe die kaum erfahrene Reporterin noch agiert, „wie man es in der Ausbildung lernt“. Erst nachdem sie alles gesagt hatte, was sie wusste, habe sie sich „um Kopf und Kragen geredet“– vor allem, „weil die Moderatorin im Studio immer weiter gefragt hat“, wie Renner betont.
Systemfehler der Medien
Als die Sendung lief, habe noch niemand genau gewusst, was passiert war. Der Systemfehler bestehe nun gewissermaßen darin, dass die Medien meinen, in solchen Situationen stets bereits eine „Problemlösung präsentieren“ zu müssen.
Am 11. März jährt sich der Amoklauf von Winnenden nun zum fünften Mal. Welche Lehren lassen sich heute ziehen aus der Berichterstattung über die Katastrophe? Renner beschäftigt sich mit solchen Fragen, weil er selbst einmal Betroffener eines Amoklaufs war. 1988 lebte er im bayerischen Dorfen, er war zu der Zeit fester Freier beim Bayerischen Rundfunk.
Im März jenes Jahres erschoss dort ein Amokläufer drei Beamte der örtlichen Polizeiinspektion. Als der Sender die Nachricht vom Amoklauf bekam, schickte man Renner zum Ort des Geschehens. Er sei angesichts all der Blutlachen so schockiert gewesen, dass er nicht in der Lage gewesen sei, die Zeugen zu befragen, sagt er. Das habe damals sein Kameramann getan.
Nur noch Automatismen
Warum Renner so reagiert hat, kann Thomas Weber, Geschäftsführer des Zentrums für Trauma- und Konfliktmanagement in Köln, erklären. „In einer existenziellen Situation reagiert man emotional wie ein normaler Mensch, es verschlägt einem die Stimme“, sagt er. Es sei fast unmöglich, „auf Distanz umzuschalten und mit professioneller Distanz zu berichten“.
Man gehe „als Mensch in eine Situation, vor der man von der Biologie her weglaufen müsste“, meint Weber. Journalisten behelfen sich in der Regel damit, dass sie „auf Automatismen zurückgreifen“. Sie stellen Fragen, um zu „versuchen, die Kontrolle über die Situation zu behalten“.
Das kann aber nur bedingt als Erklärung dafür dienen, was manche Journalisten 2009 vor Ort angerichtet haben. Weber kennt viele Horrorgeschichten, denn er hat in Winnenden die psychologische Nachsorge koordiniert, das heißt, die überlebenden Opfer und die Hinterbliebenen betreut. „Einige Journalisten haben sich einfach das Telefonbuch geschnappt und Betroffene angerufen, ohne dass diese darauf vorbereitet waren“, sagt Weber. „Manche Eltern haben später spöttisch gesagt, es wäre angesichts des Drucks hilfreich gewesen, wenn man ihnen statt eines Psychologen einen Medienberater an die Seite gestellt hätte.“
Die Frage, welche Medien vor fünf Jahren in Winnenden konkret negativ aufgefallen sind, will Thomas Weber „lieber allgemein“ beantworten: „Die frühere Trennung zwischen den guten Öffentlich-Rechtlichen und den bösen Privaten war nicht mehr zu sehen. Es gab Grenzverletzungen auf beiden Seiten, aber auch gute Beispiele.“
Verkaufte Opferfotos
Einige Verfehlungen waren zeitweilig auch strafrechtlich relevant: Der Schulfotograf der Albertville-Realschule hatte klassische Porträtfotos von Opfern über einen Rechtsanwalt für insgesamt 8.000 Euro an den Stern und die inzwischen nicht mehr existierende Nachrichtenagentur ddp verkauft. Einige Eltern erstatten deshalb Anzeige.
An dem Deal war auch eine Bildagentur beteiligt. Das zuständige Amtsgericht Schorndorf stellte das Verfahren 2012 allerdings ein, gegen eine Geldbuße zugunsten des Fördervereins der Albertvilleschule. Insgesamt 5.700 Euro mussten die geschäftstüchtigen Fotoverkäufer zahlen.
Die Grenzüberschreitungen nach dem Amoklauf bewegten Thomas Weber 2010 dazu, am ersten Jahrestag der Katastrophe Flugblätter mit einem Verhaltenskodex zu verteilen: „Fragen Sie bitte nicht nach dem persönlichen Erleben von vor einem Jahr“, lautete eine der Bitten an die Medienvertreter. Sonst könne „der therapeutische Prozess bei den Betroffenen wieder zurückgeworfen werden“.
Ein vergleichbares Regelwerk hatte die Winnender Zeitung bereits ein Jahr zuvor aufgestellt. Die Lokalzeitung verpflichtete sich beispielsweise dazu, nicht über Beerdigungen zu berichten. Eine weitere Regel erläutert Frank Nipkau, der verantwortliche Redakteur der Zeitung: „Schwer traumatisierte Menschen gehören in solchen Situationen nicht vor eine Kamera – erst recht nicht schwer traumatisierte Jugendliche“, sagt er. Abgesehen davon, dass es „gefährlich“ sei „für die Gesundheit traumatisierter Menschen, diese zu bedrängen, gibt es ja noch einen zweiten Aspekt: Traumatisierte sind keine verlässlichen Quellen.“
Falsche Erinnerungen
Wenn falsche Aussagen in Umlauf geraten, ist das auch für die Polizei vor Ort wenig hilfreich. Unmittelbar nach dem Amoklauf in Winnenden hätten „einige Augenzeugen erzählt, der Attentäter habe einen Kampfanzug getragen“, erinnert sich Nipkau. „Das hat sich aber als Nonsens erwiesen.“
Wie sind derart unrichtige Darstellungen zu erklären? „Ein akut betroffener Zeuge ist ein schlechter Zeuge, weil seine Wahrnehmung aufs eigene Überleben ausgerichtet ist“, sagt Thomas Weber. „Er nimmt einige Teile überdeutlich wahr, andere Teile gar nicht.“ Es sei leicht, eine traumatisierte Person zu Aussagen zu bringen, die sie hinterher bereut, ergänzt er.
Oft sei es aber auch so, dass unmittelbar Beteiligte, wenn sie unter Schock stehen, geradezu dankbar sind, wenn sie mit jemandem über das Erlebte reden könnten, meint Karl N. Renner. „Reden ist Psychotherapie. Und wenn jemand sprechen will, sollte ein Journalist das Interview auch führen. Aber, und das ist der entscheidende Punkt, er sollte sich dreimal überlegen, was er am Ende veröffentlicht. Er muss auch den Mut haben, eine gute Story zu killen.“
Ob das angesichts der in den vergangenen fünf Jahren noch einmal erheblich beschleunigten Dynamik im Nachrichtengeschäft realistisch ist, steht auf einem anderen Blatt. Thomas Weber konstatiert, der Drang, Neuigkeitsbruchstücke so schnell wie möglich in Umlauf zu bringen, sei größer geworden – nicht zuletzt dank der gewachsenen Bedeutung der sozialen Netzwerke.
Es mag zwar auf der Hand liegen, was in den jüngeren Vergangenheit falsch gelaufen ist in der Amoklaufberichterstattung, aber: Was die zukünftige Berichterstattung über solche Ereignisse angeht, sei er „pessimistisch“, sagt Weber.
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