Verfassungsrichterin über Gerechtigkeit: „Recht ersetzt Sozialpolitik nicht“
Bundesverfassungsrichterin Susanne Baer über die Menschenwürde von Hartz-IV-Beziehenden und die Vorteile einer Verfassung ohne soziale Grundrechte.
taz: Frau Baer, was ist Gerechtigkeit?
Susanne Baer: Ich nehme an, Sie wollen eine Antwort aus meiner Sicht als Verfassungsrichterin
Ja, bitte.
Dann kann ich die Frage nicht beantworten. Wir entscheiden nicht, was Gerechtigkeit ist.
Wie bitte? Das Bundesverfassungsgericht kann nicht definieren, was Gerechtigkeit ist?
So ist es. Das Grundgesetz schafft den Rahmen, in dem Gerechtigkeitsfragen von der Gesellschaft und in den Parlamenten beantwortet werden müssen. Genügt es, wenn alle ähnlich gute Chancen haben? Sollen möglichst viele vom wachsenden Reichtum profitieren? Für diese Diskussion gibt es die Demokratie, mit den Parteien, der Meinungs- und Versammlungsfreiheit, der Presse.
Die 53-Jährige ist seit 2011 beim Bundesverfassungsgericht. Die erste offen homosexuelle Verfassungsrichterin Deutschlands wurde von den Grünen vorgeschlagen und ist im Ersten Senat u. a. für Hartz-IV-Fragen und Arbeitsrecht zuständig
Das Verfassungsgericht hat hier keinerlei Präferenz?
Nein. Vielleicht hoffen manche zu oft, dass „Karlsruhe“ es schon richten wird. Ein Verfassungsgericht hat aber nicht die Funktion, Vorstellungen von Gerechtigkeit mit Leben zu füllen. Hier müssen sich die Menschen zuallererst selbst einbringen. Also: Wählen gehen und öffentlich gerade auch mit denen streiten, die anderer Meinung sind.
Und was tut das Verfassungsgericht für die Gerechtigkeit?
Eine Menge! Es sichert den offenen politischen Prozess – mit der Meinungsfreiheit, der Versammlungsfreiheit, den Oppositionsrechten. Es klärt die demokratischen Standards, nach denen Politik für Gerechtigkeit sorgt. Und es klärt, was politisch nicht zur Disposition steht, also die Grundrechte. Verfassungsrecht setzt die Leitplanken der Sozialpolitik, ersetzt sie aber nicht.
Und wo liegt diese Untergrenze?
Ganz zentral ist das Recht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums. Das war schon nach dem Krieg wichtig, mit sehr vielen Geflüchteten. Es steht heute hinter unserem Urteil von 2010, der sogenannten Hartz-IV-Entscheidung. Ausgangspunkt ist die Menschenwürde – nicht zufällig der erste Artikel im Grundgesetz.
Eine konkrete Summe für das Existenzminimum haben Sie darin aber nicht genannt …
Nein. Das Existenzminimum im konkreten sozialen Kontext zu berechnen, ist Sache des Gesetzgebers. Das Bundesverfassungsgericht hat aber gefordert, dass Sozialleistungen nachvollziehbar und tragfähig berechnet werden. Der Gesetzgeber darf nichts ins Blaue hinein schätzen – das steht da wörtlich. Und er muss ohne Diskriminierung sicherstellen, dass Menschen tatsächlich menschenwürdig leben können.
Und am Ende bekamen alle fünf Euro mehr pro Monat …
Bitte vergessen Sie nicht, dass wir zwei Jahre später an das Asylbewerberleistungsgesetz genau diesen Maßstab angelegt und es als „evident unzureichend“ beanstandet haben. Der Gesetzgeber hatte die Leistungen von Anfang an extrem niedrig angesetzt und nie erhöht. Das unterschritt klar die Grenze, die das Grundgesetz zieht. Und die Entscheidung ist auch heute wichtig.
Nützt das soziale Verfassungsrecht also besonders den Außenseitern, weil man sich um die sozialen Rechte der Mehrheit keine Sorgen machen muss?
Verfassungsrecht ist natürlich für alle da. Aber der gerichtliche Grundrechtsschutz ist gerade für diejenigen wichtig, die politisch keine Stimme haben oder die ausgegrenzt werden. Da kommt auch den Diskriminierungsverboten des Grundgesetzes besondere Bedeutung zu. Aber auch Menschen, die zur Mehrheitsgesellschaft gehören, sind unter Umständen auf gerichtliche Hilfe angewiesen. Allerdings arbeiten die Behörden und Gerichte meist so gut, dass Karlsruhe nicht intervenieren muss.
Und was sagt das Grundgesetz zur sozialen Ungleichheit?
Im KPD-Urteil von 1956 heißt es, das Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes solle „schädliche Auswirkungen schrankenloser Freiheit verhindern und die Gleichheit fortschreitend bis zu dem vernünftigerweise zu fordernden Maße verwirklichen.“ 1967 erklärte das Gericht, der Staat habe „die Pflicht, für einen Ausgleich der sozialen Gegensätze und damit für eine gerechte Sozialordnung zu sorgen …“
Ein Ausgleich der sozialen Gegensätze? Die werden doch immer größer. Und wenn es dann ernst wird mit der Umverteilung, etwa bei der Erbschaftssteuer, dann werden Unternehmenserben weitgehend verschont …
Auch hier gilt: Zuerst kommt die Verantwortung der Politik, erst dann eventuell das Verfassungsgericht. Die Steuerverschonung derer, die Unternehmen erben, hat der Gesetzgeber beschlossen, mit dem durchaus sozialen Argument, dass Arbeitsplätze gesichert werden.
Und das Bundesverfassungsgericht hat dieses Lobby-Märchen auch noch geglaubt …
Scheinargumente lassen sich entlarven. In Verfahren vor dem Verfassungsgericht prüfen wir nicht nur gründlich, sondern holen auch Stellungnahmen ein, um ein breites Spektrum an Positionen zu berücksichtigen. Im Ergebnis wurden einige Verschonungsregelungen beanstandet, die eindeutig nicht der Arbeitsplatzsicherung dienten oder exzessiv waren. Wir setzen eben die Leitplanken, die sich aus dem Grundgesetz ergeben. Alles andere entscheidet der Gesetzgeber.
Und doch haben Sie mit zwei anderen Richtern ein Minderheitsvotum zu diesem Urteil geschrieben. Warum?
Wir haben nicht das Ergebnis beanstandet, sondern an das Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes erinnert. Es verpflichtet den Gesetzgeber auf das Ziel, weiteres Anwachsen des Reichtums in den Händen weniger zu verhindern.
Ist es ein Problem, dass das Grundgesetz vor allem als Verfassung der Freiheit konzipiert ist?
Ist das so? Menschenwürde und Gleichheit gehören untrennbar zum Freiheitsgebrauch dazu – die drei Grundrechte sind im Grundgesetz der Auftakt, die Freiheit also weder allein noch absolut.
Was heißt das praktisch? Ein Beispiel bitte.
Wenn der Gesetzgeber etwa entscheidet, Studiengebühren zu erheben, dann geht es nicht nur um die Freiheit des Berufs. Es geht auch um die sozial ungleiche Realität: die Gebühren belasten Arme, Reiche aber kaum. Also ist die Freiheit nur real, wenn das sozial abgefedert wird. Wie das läuft, muss politisch entschieden werden – etwa über Stipendien oder nachlaufende Gebühren, die erst gezahlt werden müssen, wenn Einkommen erzielt wird –, aber dass es sein muss, ergibt sich aus dem Grundgesetz.
Der Gleichheitsgedanke kann im Sozialstaat also dazu führen, dass sozial Ungleiches auch ungleich behandelt werden muss?
So ist es. Und dafür gibt es sehr viele Beispiele. Schematischer Formalismus kann sehr ungerecht sein. Deshalb gilt auch, dass wirtschaftlich Leistungsfähigere höhere Steuern zahlen als wirtschaftlich Schwächere.
Hartz IV wird von der Linken als „Armut per Gesetz“ gebrandmarkt. Wie ist die verfassungsrechtliche Sicht?
Entscheidend ist, die Menschenwürde unter den Bedingungen der Freiheit für Menschen in sehr unterschiedlichen Lebenslagen gleichermaßen zu wahren. Das ist für den Gesetzgeber keine einfache Aufgabe. So darf er verlangen, dass erwachsene Kinder, die bei ihren Eltern wohnen, mit diesen aus einem Topf wirtschaften, solange das zumutbar ist – das mussten wir erst jüngst klären. Und wer sich bei längerer Erwerbslosigkeit mit eigenen Ersparnissen helfen kann, muss diese einsetzen, bevor der Staat einspringt, denn Sozialrecht darf sich an Bedürftigkeit orientieren.
Der Schutz der Lebensleistung und des einmal erreichten Besitzstandes ist kein verfassungsrechtlicher Wert?
Das Eigentum wird vom Grundgesetz durchaus geschützt. Aber Eigentum ist eine rechtliche Konstruktion und solidarische Sicherungssysteme sind etwas anderes.
Wie meinen Sie das?
Wer in die Rentenversicherung einzahlt, erwirbt Anwartschaften auf eine Rente, aber keinen Anspruch genau auf die einmal einbezahlte Summe. Um die Funktionsfähigkeit dieser Alterssicherung für alle zu sichern, sind auch Rentenkürzungen zulässig. Das entscheidet wieder die Politik; das muss gesellschaftlich verhandelt werden. Erst im Konflikt klärt das Verfassungsgericht, ob die Leitplanken stehen.
Das Grundgesetz kennt bisher keine sozialen Grundrechte, wie zum Beispiel ein Recht auf Arbeit oder auf eine menschenwürdige Wohnung. Würde das die Position der Schwachen in sozialen Auseinandersetzungen nicht deutlich verbessern?
Das klingt zwar gut. Aber in der Sache ist es zweifelhaft. Ein Recht auf Arbeit finden Sie in einigen deutschen Landesverfassungen, wie Berlin oder Hessen, und im Ausland. Aber es ist da kein einklagbares Recht, sondern wird als Programmsatz verstanden. Da wird eine Verfassung zum leeren Versprechen. Das schwächt dann die Bedeutung und den Wert der Verfassung selbst.
Dann müssten die sozialen Grundrechte eben als einklagbares Recht ausgestaltet werden…
Das würde die Gerichte überfordern, den Gesetzgeber strangulieren und die politische Debatte lähmen. Die Grundrechte des Grundgesetzes haben zwar eine starke soziale Dimension und sind einklagbar. Aber zuerst entscheiden sich Verteilungsfragen in der Sozial- und Wirtschaftspolitik.
Deutschland ist ein reiches Land. Wo es keine privaten Arbeitsplätze gibt, müsste der Staat eben neue Stellen schaffen. Das ließe sich doch gerichtlich leicht kontrollieren.
Das mag Ihre politische Präferenz sein. Aber wie halten Sie es dann mit sozialem Wohnraum? Mit Schulen? Mit der Betreuung für kleine Kinder und der Pflege alter oder kranker Menschen? Und das ist nur der Anfang einer langen Liste, über die politisch diskutiert werden muss. Verfassungsgerichte müssen diese Diskussion offen halten, nicht schließen.
Sie finden also eine Verfassung ohne soziale Grundrechte besser?
Sie ist ehrlicher. So hat sich das Grundgesetz als Verfassung ohne leere Versprechungen bewährt.
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