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Kommentar Wahlenthaltung im OstenDer Motor der Demokratie stockt

Stefan Reinecke
Kommentar von Stefan Reinecke

Der Landespolitik in Ostdeutschland fehlt es an Kontroversen. Die potenziellen Wähler fühlen sich nicht als Subjekt der Demokratie.

Stehengeblieben auf der Suche nach der Demokratie Bild: dpa

V ielleicht gibt es Ostdeutschland nicht mehr und wir haben es nicht bemerkt, weil sich der Prozess zu langsam vollzog, um die Wahrnehmungsschwelle zu überschreiten. Der Osten hat sich, jedenfalls wenn man auf das Soziale und Wirtschaftliche schaut, aufgefächert. Ältere, regionale Prägungen sind deutlicher geworden. Der traditionell industrialisierte Südosten boomt, der Nordosten ist teilweise geworden, was er schon im 19. Jahrhundert war: eine ländliche Auswanderungsgegend.

2014 haben Angestellte in Erfurt und Potsdam, was Habitus und Lebensstil angeht, mehr mit Angestellten in Göttingen gemein als mit Minijobbern in einer Kleinstadt in Nordbrandenburg. Ein Arbeitsloser in Eberswalde hat mehr mit einem Arbeitslosen in Ostfriesland zu tun als mit dem Facharbeiter bei Porsche in Leipzig.

Trotzdem sind Produktivität und Löhne und auch die Renten in Ostdeutschland niedriger als im Westen, die Arbeitslosigkeit ist höher. Aber dieser Blick allein ist zu grob geworden. Denn die Kluft zwischen florierenden Metropolen wie Leipzig und schrumpfenden Städten wie Schwedt oder Prenzlau wird weiter wachsen. Hinsichtlich Wirtschaft und Demographie hat der Osten als Begriff etwas Schattenhaftes angenommen: Es war mal etwas da, das langsam verschwindet. Es bleibt ein Umriss.

Politisch aber gibt es im Osten etwas, das zumindest noch auffälliger als in Westdeutschland ist – eine hartnäckige, achselzuckende Art, sich von demokratischen Ritualen abzuwenden. In Sachsen ging die Hälfte der BürgerInnen nicht zur Landtagswahl. In Thüringen und vor allem in Brandenburg ist zu befürchten, dass am Sonntag noch weniger wählen werden. Zwischen der Uckermark und der Lausitz wollen, laut Emnid-Umfrage, 49 Prozent der BürgerInnen vom Wahlkampf nicht behelligt werden.

taz.am wochenende

Drohnen sind böse und töten auf Knopfdruck. Aber so ein Flugroboter kann auch gut und nützlich sein. In der taz.am wochenende vom 13./14. September 2014 lesen Sie, wie wir die Drohne lieben lernen. Außerdem: Ein Jahr nach Marcel Reich-Ranickis Tod spricht sein Sohn über den schweigsamen Vater und letzte Fragen am Sterbebett. Und: Kommende Woche stimmen die Schotten über die Unabhängigkeit vom Vereinigten Königreich ab. Unser Korrespondent hat das Land bereist, das zwischen "Yes" und "No" schwankt. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.

Ausdruck der Zufriedenheit?

Konservative deuten solche Politikferne gern als stille Zustimmung: Wer nicht zur Urne geht, sende damit die Botschaft an die Regierenden, dass die Sache irgendwie in Ordnung sei. Es mag sein, dass in der Wahlabstinenz auch ein passives Ja steckt. Aber als generelles Deutungsmuster ist das doch allzu gemütlich. Es hat etwas von Selbstberuhigung. Und zwar nicht nur, weil die Nichtwähler oft Rechtspopulisten wie der Alternative für Deutschland oder sogar rechtsextremen Parteien wie der NPD den Weg in die Parlamente bahnen.

In der Weigerung zu wählen verbirgt sich auch oft zu stummer Resignation herunter gedimmte Verzweiflung. Es ist kein Zufall, dass vor allem das untere Fünftel bei Wahlen zu Hause bleibt. Offenbar ist das Gefühl, nicht Autor der Demokratie zu sein, im Osten stärker ausgeprägt. Darin ist ein Echo von 1990 zu hören, als der Osten das westdeutsche politische System übergestülpt bekam. Das wollte die Mehrheit der Ostdeutschen damals. Aber es war ein Importartikel, nicht ihre Errungenschaft.

So kann man im Osten deutlicher als im Westen beobachten, wie das politische System leerläuft. Weil der Souverän sich zurückzieht und sich wurschtig desinteressiert zeigt, strömen alle Politiker in die Mitte. Bloß keine scharfen Kontoversen! Lieber präsentiert man sich als heimatverbunden, sendet Wohlfühlbotschaften und appelliert an die regionale Identität. Das macht die CDU in Sachsen nicht viel anders als Linkspartei oder SPD in Brandenburg.

So begeben sich Souverän und Politik in eine Spirale gegenseitiger Unterforderung. An deren Ende wissen die Bürger wirklich nicht mehr, was eigentlich zur Wahl steht. Warum soll man abstimmen, wenn ja doch alle nahezu das Gleiche wollen? Der Motor der Demokratie, die Wahl zwischen Alternativen, stockt.

Das ist kein Grund für Wessi-Überlegenheitsposen. Der postdemokratische Rückzug zwischen Gotha und Eberswalde ist nur die Blaupause für das, was mit Zeitverzögerung auch im Westen passiert.

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Stefan Reinecke
Korrespondent Parlamentsbüro
Stefan Reinecke arbeitet im Parlamentsbüro der taz mit den Schwerpunkten SPD und Linkspartei.
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26 Kommentare

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  • Ich sehe den Grund für die Wahlmüdigkeit und die Bereitschaft, andere als die etablierten Parteien zu wählen, darin, dass die gelernten DDR-Bürger die als demokratisch bezeichnete Diktatur bereits einmal erlebt haben und daher nun auch wiedererkennen können. Denn die repräsentative Demokratie steht zwar mustergültig im Grundgesetz, wurde aber mittels Fraktionszwangs zur Diktatur der jeweiligen Regierungspartei transformiert.

  • Welche Zeitverzögerung bitte? Der Fakt dass man das untere Viertel - und nicht 20 % - mit Politik nicht mehr erreichen kann, beschränkt sich nicht auf Ostdeutschland. Es ist vielmehr ein Gesamtdeutsches Phänomen und natürlich dort leichter zu erleben wo viele Menschen aus dem unteren Viertel leben.

     

    Was dem Artikel fehlt ist ein Diskurs darüber, wann die Allgemeinheit der Wahl nicht mehr gegeben ist und sie somit eigentlich ungültig sein müsste.

     

    Es ist schlicht und ergreifend witzlos wenn nicht nur weniger Menschen im Parlement repräsentiert sind als gewählt haben - 5 % Hürde - sondern von vornherein eine Mehrheit der Bevölkerung nicht gewählt hat.

     

    Eine ernsthafte demokratische Legitimierung für Parlament und Staatsregierung vermag ich zumindest aus der Sachsenwahl nicht abzuleiten.

     

    Der Autor hat es jedenfalls gut bemerkt dass wir im Endeffekt eine Art Kastensystem in der Poltik > Bevölkerung etabliert haben, indem die Bewohner einer Kaste untereinander mehr gemein haben als mit ihren unmittelbaren Nachbarn.

     

    Das ganze erinnert mehr und mehr an vergangene Wahlsystem in denen nach Steueraufkommen gewählt wurde und Fürsorgeemfpänger und z.B. Soldaten von der Wahl ausgeschlossen waren.

     

    Die AfD wird es toll finden, sie trat ja schon seit ihrer Gründung dafür ein, Rentner, Beamte und Fürsorgeemfpänger von der Wahl auszunehmen. Zumindest Konrad Adam, die alte FAZ Socke, tat dies. Wäre natürlich gar nicht die Parteimeinung der AfD gewesen...

  • "Trotzdem sind Produktivität und Löhne und auch die Renten in Ostdeutschland niedriger als im Westen, die Arbeitslosigkeit ist höher."

    Stimmt fast alles. Bis auf die Renten.

    Die durchschnittlich ausgezahlten Renten sind im Osten HÖHER als im Westen.

    Vermutlich kann man mit der Erwähnung der angeblich benachteiligten Rentner im Osten bei den alten Menschen im Osten gute Wahl-Stimmen einfangen.

    http://www.neues-deutschland.de/artikel/917665.den-rentnern-geht-es-so-gut-wie-nie.html?sstr=Renten

      • @Willi:

        Das wiederholte verlinken der NDS ist ja durchaus begrüßenswert, allerdings wäre mehr getan wenn du auf einen einzelnen Artikel oder eine passende Aussage verlinken würdest als auf die Suchergebnisse.

    • @Kein Genfutter bitte!:

      Die Aussage zu den Renten ist falsch: Auch bei den Renten gibt deutliche Benachteilungen der Rentner. Das liegt vor allem an den geringen anrechnnugnsquoten für Ossis und daran, dass im Westen durch Beamte (Lehrer, Uniprofessoren, Staatsdienst) und Selbstständige gerade ide Gruppen, die hohe Altersversorgungen haben, nich mitgezählt werden, im Osten aber in den Durchschnitt einfliessen. Die zum Teil gravierenden Unterscheide sieht man gut, wenn man Berufsgruppen (Metallarbeiter, Uniprofessoren, Medizindoktoren etc) vergleicht. -

      • @Tupaq:

        Allerdings haben die Menschen im Osten bis 1989 überhaupt nicht in die aktuelle Rentenkasse einbezahlt. Außerdem sind die Lebenshaltungskosten deutlich niedriger, siehe Mieten, Dienstleister, Handwerker.

        • @Gabriel Renoir:

          In die aktuelle Rentenkasse haben zu der Zeit schon wie heute Arbeitnehmer mit wenigen Wochen Vorlauf erst eingezahlt. Nichts mit dicker West- Rentenkasse, die von Ossis schamlos geplündert wurde.

    • @Kein Genfutter bitte!:

      Zitat aus Ihrem Link:

       

      "Zudem war die Erwerbsbeteiligung von Frauen deutlich höher. Ostdeutsche Frauen erhalten daher im Schnitt eine Altersrente von...."

       

      Das ist der einfache Umstand, der dazu führt; Nur mal so zur Ergänzung.

  • Es geht gar nicht so sehr darum, sich nicht als Autor von Politik zu fühlen (wer will das schon ernsthaft), sondern darum, nicht einmal mehr Adressat von Politik zu sein. Die Abgehängten haben von der Demokratie nichts mehr zu erwarten, da Demokratie immer schon eine Veranstaltung der Bessergestellten war und die das Interesse an den Schlechtergestellten verloren haben.

  • Finde ich gut,dass der Osten seine Meinung in der Form von Wahlenthaltungen zeigt.Es war in der DDR egal was und ob man gewählt hat und es ist es auch nach der Wiedervereinigung.Eine Politik für die Wähler wird und wurde in keinem Fall gemacht.Immer waren andere Interessen wichtiger.Jetzt kann man wenigstens ein Zeichen der Unzufriedenheit setzen,indem man die Stimmabgabe verweigert.

    Das wehmütige Argument,man habe in der DDR für freie Wahlen gekämpft und es sei fahrlässig jetzt nicht von seinem Wahlrecht Gebrauch zu machen greift nicht,weil die Leute verstanden haben,dass sie hier und heute den Staatskurs genauso wenig beeinflussen können wie damals.

    Es bleibt dabei:"Es muss demokratisch aussehe,aber...."

  • "die Nichtwähler als stärkste Partei ins Parlament einziehen" ... Was soll der Quatsch? wenn die Leute nicht wählen, ist es doch ihre Sachen. Wieso sind daran die Politiker Schuld? Die Leute sind wohl desinteressiert. Haben was anderes vor. Oder gar nichts vor. Muss man sich darum als Wähler einen Kopf machen? Ist doch jedem sein eigenes Bier. Wer nicht will, hat schon gehabt.

    • @Gabriel Renoir:

      Sie haben ein sehr fragwürdiges Demokratieverständnis und gehen damit konform mit den Politikern der CDU-CSU-FDP-SPD-GRÜNE-AFD, die das Thema nicht ernsthaft auf die Tagesordnung bringen. Solange die Pöstchen und Gehälter stimmen machen diese Parteien sich keine Gedanken darüber, dass ihre Legitimation bei diesen katastrophalen Wahlbeteiligungen sehr sehr schwach ist. Es ist denen schlicht und einfach egal. Eine sog. "Berufsehre" gibt es bei Politikern in diesen Parteien nicht.

    • @Gabriel Renoir:

      "Wieso sind daran die Politiker Schuld?"

       

      Weil viele Leute kein Vertrauen in die Politiker haben und denken, dass es zwecklos ist zu wählen? Der sich selbst beweihreuchernde Einheitsbrei lockt nicht eben in die Wahllokale.

      • @warum_denkt_keiner_nach?:

        Politiker ist auch kein Super-Beruf: Wer kein kompletter Narzist ist, kann eigentlich nur bemitleidet werden, diesen Beruf zu ergreifen: Man muss fachlich gut sein, muss die Leute vollquatschen auf Wahlveranstalzungen, und ist ständig von Besserwissern umgeben, die am Stammtisch und in der Kommentarfunktion im Internet natürlich alles viel besser könnten, könnten, wenn wenn ähhem. Wenn ich mir das 3. Programm im Osten anschaue, weiß ich auch, wieso die Leute nicht wählen, denn das 3. Programm im Osten ist sowas von oberflächlich, nur zum abschalten.

      • @warum_denkt_keiner_nach?:

        Deshalb hat die Partei DIE LINKE eine Chance verdient zu regieren.

        • @Willi:

          die Linke hat keine Ahnung wie Wirtschaft funktioniert, nämlich duch Arbeit und Kapital und Risiko ab und an.

  • Hier sollte dann doch der Gesetzgeber reagieren, alle Wahlen unterhalb einer Beteiligung von 50% wiederholen lassen oder halt Wahlpflicht einführen.

    Die Politiker sollten also endlich mal wieder etwas für das Volk tun und in dessem Sinne entscheiden, damit diese dann auch das Vertrauen haben können dem versprochenem und Gesagtem im Wahlkampf dann auch nach der Wahl Glauben schenken zu können.

    Eine andere Idee wäre es auf dem Wahlzettel ein "Enthaltungskästchen" ein zu führen. Dann könnte man auch überlegen, ob die Nichtwähler als stärkste Partei ins Parlament einziehen, hier wird dann einfach aus allen Bürgern entsprechend der Anzahl Sitze gelost um die Vertretung jeweils für jede Abstimmung zu stellen (direktere Demokratie als diese gibt es ja dann gar nicht mehr). Die Reisekosten zur Abstimmung werden natürlich vom Steuerzahler getragen. Oder, die schönen ausgewerteten Prozentzahlen werden nach der Wahl auf 100% umgerechnet (bei Wahlbeteiligung von 50% werden dann schnell aus 50% -> 25% CDU Wähler) und nur so viele Sitze für die Parlamente gestellt wie anteilig gewählt wurde, dann würde man gar nicht so schnell gucken können wie die Politiker versuchen würden die Wahlbeteiligung wieder nach oben zu drücken um ihren Listenplatz doch bestätigt zu bekommen.

    • @HarryHeinrich:

      Zum Teufel, eine Wahlpflicht ist das Letzte was wir brauchen oder das Problem lösen würde. Selbst wenn mich die Polizei abholen würde, ich würde meine Stimme nicht in eine Urne abgeben, denn was in eine Urne kommt wird bestattet! Ich will meine Stimme behalten um den Regierigen den Spiegel vorzuhalten!

      • @Stupor Mundi:

        Anstatt mit Nichtwählen den Spiegel den sich abwendenden Politikern vorzuhalten, könnte man auch den Wahlzettel spiegeln lassen; bspw. mit dem Eulenspiegel " Die Partei".

      • @Stupor Mundi:

        "Ich will meine Stimme behalten um den Regierigen den Spiegel vorzuhalten!" ist reine Lyrik, bedeutet nichts. Wenn schon, musst du ungültig wählen gehen, indem du deine Meinung auf den Wahlzettel schreibst. Wenn das alle Nichtwähler machen würden, könnte es vielleicht als Botschaft verstanden werden. Die übergroße Mehrheit will keinen Krieg, denkt dass die Reichtümer zu ungleich verteilt sind, dass die Finanzspekulanten an die Leine gehören - aber was tut die Politik? - aber wen wählen die Leute?

  • "strömen alle Politiker in die Mitte" Also ob das land nicht genug mit Extremisten zu tun hat.

     

    Mir ist Mitte alle mal lieber als Links- und Rechtsaußen.

    • @DasNiveau:

      Sie wissen offensichtlich nicht oder haben es (noch) nicht bemerkt, welche Parteien gerade die Mitte zerstören. die LINKE kann das nicht sein, weil sie bisher auf Bundesebene leider (noch) nicht in Regierungsverantwortung war. Aber wählen sie ruhig die vermeintlichen "Mitte-Parteien". Wirtschaftsminister Gabriel, ein Mitglied dieser Regierung, will vorzeitiges Nein der Sozialdemokraten zu umstrittenem Freihandelsabkommen VERHINDERN.

      • @Willi:

        mit dem Freihandelsabkommen tut sich endlich mal wieder was in der Welt der Käferzähler und Sozialagitateure. Die Welt ändert sich rasant, bisher sind wir noch nicht untergegangen, aber an Wichtigkeit werden wir verlieren.