BRICS-Staaten 2014 – Russland: Man möchte doch Optimist sein
Werden die Brics-Staaten das 21. Jahrhundert prägen? In Russland steht 2014 im Zeichen der Winterspiele von Sotschi. Wünsche an ein Land.
MOSKAU taz | Es ist wohl kaum verwunderlich, dass viele Prognosen und Erwartungen für das kommende Jahr in Russland auf die eine oder andere Weise mit den Olympischen Spielen verknüpft sind.
Zugegeben, sie rosig zu nennen fällt schwer. Die Spiele haben den Haushalt schon jetzt anderthalb Billionen Rubel gekostet. Ein Teil davon versickerte in privaten Taschen, versteht sich – wie hätte es auch anders sein sollen. Niemand weiß, was nach den Spielen in dieser südlichen Stadt mit den gigantischen Wintersportstätten, den luxuriösen Hotels und dem überdimensionierten Flugplatz eigentlich geschehen soll.
Fast alle Objekte werden sich wohl nie bezahlt machen, niemand wird sie noch einmal nutzen, sie zu unterhalten ist aber kostspielig. Schon jetzt ist die Nutzung riskant – wegen der geringen Bauqualität. Und schon jetzt ist abzusehen, dass ein Teil der Anlagen in Sotschi, die in der schlammigen Schwemmlandschaft der Imeritinski-Bucht errichtet wurden, unweigerlich – wenn auch nur langsam – im Boden versinken werden.
Alissa Ganijewa, 28, ist Schriftstellerin. Sie wurde in Moskau geboren und wuchs in Dagestan auf. In Deutschland veröffentlichte sie 2011 in der Anthologie „Das schönste Proletariat der Welt. Junge Erzähler aus Russland“. Im Februar erscheint im Suhrkamp-Verlag ihr Roman „Die russische Mauer“.
Weitaus bedrohlichere Gefahren indes sind immaterieller Natur. Viele Menschen in Russland sind überzeugt: Nach den Spielen werden die Daumenschrauben angezogen. Vor den Wettkämpfen bemühen sich die Machthaber noch aus Imagegründen, nicht über die Stränge zu schlagen. Im März hingegen werden sie hemmungslos loslegen.
Diese Vermutung ist logisch, deckt sich aber zum Glück nicht mit dem, was zurzeit geschieht. Klar, Chodorkowski wurde freigelassen sogar etwas vor Ablauf seiner Strafe, zur gleichen Zeit werden jedoch in aller Ruhe reaktionäre Umbesetzungen in den Medien vorgenommen und Antihomogesetze erlassen.
Man hätte dies auch erst nach den Spielen machen können, ohne einen Boykott zu riskieren und weltweit Aufmerksamkeit zu schüren. Kurzum, der Konnex zwischen Olympia und politischem Klima ist in Russland nicht so eindeutig, im Frühling muss es nicht zwangsläufig zu einem Temperatursturz kommen. Zumindest hoffe ich das.
Geld für die Wissenschaft
Russland, genauer: die Russische Föderation ist flächenmäßig das größte Land der Welt mit 17.098.242 Quadradkilometer, bevölkerungsmäßig liegt es an der Weltspitze des Schrumpfens (Schätzung Ende 2013: 143,6 Millionen Einwohner, 5 Millionen weniger als vor zwanzig Jahren).
BIP 2012 (laut Weltbank): 2,015 Billionen Dollar
Wirtschaftswachstum (laut Weltbank): 2009: -7,8 % 2010: 4,5 % 2011: 4,3 % 2012: 3,4 % 2013: 1,2 %
Einkommensentwicklung (BIP pro Kopf laut Weltbank): 1982 (Sowjetunion): 5.800 Dollar; 1992: 3.070 Dollar; 2002: 2.100 Dollar; 2012: 12.700 Dollar
Index der menschlichen Entwicklung (HDI) 2013: Platz 55, zwischen Kuwait und Rumänien
Politik: Wladimir Putin regiert als Präsident 2000-08 und erneut seit 2012. Seine zunehmend autoritäre und willkürliche Herrschaft stößt auf Kritik. Die Herausforderung 2014: Russland ist Gastgeber der Olympischen Winterspiele vom 7. bis 23. Februar.
Sicher, gute Wünsche habe ich reichlich für Russland. Fangen wir damit an: Wenn wir in Zukunft von einem unvermeidbaren Konflikt ausgehen zwischen der Weltmacht USA und China, das Anwartschaft auf die Führung erhebt, wird es unserem Land kaum gelingen, unbeteiligt zu bleiben – schon allein wegen der Rohstoffbasis.
Der Grundstock russischer Rüstungsgüter stammt noch aus der UdSSR, deren Reservedepots wurden jedoch vernichtet und die Armee auf eine Million Soldaten heruntergekürzt. Hinzugekommen sind dann noch die Reformen des früheren Verteidigungsministers, der wegen Korruption im großen Stil abgesetzt wurde und dessen Reformeifer frühere Strukturen zerstörte und Einheiten auf Brigadestärke schrumpfen ließ. Für Säuberungen im Kaukasus mag das sinnvoll sein, nicht jedoch für militärische Auseinandersetzungen großen Maßstabs.
Experten sind der Auffassung, dass nur das Atomwaffenarsenal Russland vor einem Schicksal wie Libyen und Syrien bewahrt – und das auch nicht auf lange Sicht. Vor diesem Hintergrund möchte ich uns allen wünschen, dass wir von Weltkriegen verschont bleiben.
Zu wünschen wäre, dass mehr Geld in die Wissenschaft gesteckt wird und daraus eine Menge lebensfähiger wissenschaftlicher Projekte entstehen. Bis jetzt hat uns die Innovationsstadt Skolkowo nichts Bedeutendes beschert. Wie großartig wäre es, wenn der russische Haushalt mal nicht mehr von Rohstoffen abhinge und sich stattdessen Maschinenbau und Industrieproduktion entwickelten.
Abhängigkeit vom Ausland
Selbst Türklinken sind in russischen Geschäften Importware. Sonst schaffen wir es nicht, uns aus der Abhängigkeit von ausländischem Kapital herauszubegeben. Langfristig müsste unsere Bevölkerung auf Lebensnotwendiges verzichten und wäre zum Hungern verdammt.
Übrigens, ein paar Anmerkungen noch zu unserer Bevölkerung. Wenn sich doch nur Alkoholkonsum und fortschreitender Verfall aufhalten ließen. 14 Liter reiner Alkohol pro Person und Jahr sind es derzeit! Und wenn sich nur die Geburtenrate ankurbeln und Sibiriens Aussterben verhindern ließen. Von dort fliehen die Menschen, weil das Leben nicht mehr bezahlbar ist, sozialer Schutz und Perspektive fehlen. Daher wäre ein einheitlicher Rechtsraum auch für alle Subjekte der Föderation unumgänglich.
Zurzeit sieht es so aus, dass Tschetschenien nach eigenen Gesetzen lebt, während in Wladiwostok wieder andere gelten: Ein klares Anzeichen eines territorialen und mentalen Zerfalls des Landes. Dieser spricht auch aus Forderungen, den Kaukasus abzutrennen oder die Baikalregion und den Fernen Osten wirtschaftlich an China auszurichten – und eben nicht am eigenen Zentrum. Ganz zu schweigen von wachsenden radikalislamischen Strömungen im Süden des Landes und in nationalen Republiken wie Baschkirien und Tatarstan.
Wünschenswert wäre es, wenn Prognosen nicht einträfen, die wirtschaftliche Stagnation, geringe Investitionsbereitschaft, sinkende Ölförderung und hohe Inflation in Russland 2014 voraussagen…
Realistische, traurige Zukunft
Man möchte doch Optimist sein. Vielleicht ist das Dauergerede über schlechtere Aussichten auch eine gewisse Zukunftsbeschwörung und ein Versuch, sie auf günstigere Bedingungen zu programmieren. Sicherlich ist es auch kein Zufall, dass die russischen Schriftsteller in den letzten zehn Jahren den Übergangscharakter unserer Zeit spüren und nur damit beschäftigt sind, die Vergangenheit aufzuarbeiten oder in die Zukunft zu blicken. Auch deren Themen drehen sich um nichts anderes als die oben beschriebenen Risiken und Gefahren: Russland zerfällt nicht nur, es verfällt auch in einen totalitären Obskurantismus, verliert erst seine frei denkenden Bürger, dann Boden und Territorium.
Eine traurige Zukunft, die leider ziemlich realistisch ist. Sie hängt in der Luft. Damit sie nicht eintritt, ist es so wichtig, die Dinge klar zu benennen.
Ich hoffe sehr, dass all das nicht wahr wird. Dass die Olympischen Spiele stattdessen gelingen, die russische Regierung transparent wird, die Verfassung funktioniert, sich die Korruption verflüchtigt und sich auch die Angespanntheit im Kaukasus legt; dass das Bewusstsein der Menschen Fortschritte macht und ein Krieg zwischen den USA und China lediglich eine Hypothese kurzsichtiger Politologen bleibt. Amen.
Aus dem Russischen von Klaus-Helge Donath
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